Presseerklärung von US-Außenminister Antony J. Blinken
Nachfolgend haben wir die Eingangserklärung von US-Außenminister Antony J. Blinken vom 7. Januar 2022 übersetzt, in der er sich zu den Themen NATO, Russland und Ukraine sowie zur europäischen Sicherheit äußert. Das Statement wurde auf der Website des US-Außenministeriums veröffentlicht.
Guten Tag, allerseits. Schön, Sie hier zu sehen. Und falls ich es Ihnen noch nicht persönlich wünschen konnte: ein frohes neues Jahr!
Heute Morgen ist der Nordatlantikrat der NATO zusammengekommen, um unsere abgestimmte Reaktion auf Russlands militärische Aufrüstung entlang der ukrainischen Grenze und seine zunehmend scharfen Drohungen und hetzerischen Äußerungen zu erörtern.
Ich möchte NATO-Generalsekretär Stoltenberg dafür danken, dass er uns zusammengebracht hat.
Wie er vor Kurzem in seiner eigenen Pressekonferenz sagte, stellt das aggressive Vorgehen Russlands eine Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit in Europa dar.
Wir sind bereit, auf fortgesetztes aggressives Verhalten Russlands mit Nachdruck zu reagieren.
Aber eine diplomatische Lösung ist noch immer möglich und vorzuziehen, wenn Russland sich dafür entscheidet.
Darauf werden wir in der kommenden Woche beim Strategischen Stabilitätsdialog zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sowie den Sitzungen des NATO-Russland-Rates und der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern weiter intensiv hinarbeiten.
Vor diesen dringlichen Gesprächen sollten wir klarstellen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind.
Im Jahr 2014 entschied sich die ukrainische Bevölkerung für eine demokratische und europäische Zukunft. Russland reagierte darauf mit Herbeiführung einer Krise und einer Invasion.
Seitdem hat Russland das ukrainische Hoheitsgebiet auf der Krim besetzt und im Osten der Ukraine mit Stellvertretern, die es anführt, ausbildet, beliefert und finanziert, einen Krieg angezettelt, der fast 14.000 Menschen das Leben gekostet und die Grenzen der Ukraine gewaltsam neu gezogen hat.
Abgesehen von der militärische Aggression arbeitet Moskau zudem daran, die demokratischen Institutionen der Ukraine zu auszuhöhlen.
Moskau mischt sich in die ukrainische Politik und Wahlen ein, blockiert die Energieversorgung und den Handel, um die ukrainische Führung einzuschüchtern und die Bürgerinnen und Bürger unter Druck zu setzen, sät mit Propaganda und Desinformation Misstrauen und führt Cyberangriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes durch.
Im März des vergangenen Jahres hat Russland eine massive, unbegründete Aufstockung von Streitkräften und Ausrüstung an der ukrainischen Grenze begonnen, die sich bis in den Herbst zog – heute sind es fast 100.000 Soldaten, und es gibt Pläne, innerhalb kürzester Zeit die doppelte Zahl zu mobilisieren.
Wie also erklärt Moskau sein Vorgehen?
Mit Desinformation.
Moskau behauptet, die Ukraine bedrohe Russland.
Die Ukraine versuche, einen Konflikt zu provozieren.
Und der russische Truppenaufmarsch, die Panzer und die schwere Artillerie dienten nur der Verteidigung.
Das ist, als würde der Fuchs sagen, er müsse den Hühnerstall angreifen, weil die Hühner irgendwie eine Bedrohung darstellten.
Wir haben dieses manipulative Vorgehen schon einmal erlebt.
Als Russland 2014 in die Ukraine einmarschierte, behauptete die Führung, die Ukraine sei der Aggressor, um eine bereits geplante Militäraktion zu rechtfertigen.
Und auch heute werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um Propaganda gegen die Ukraine, die NATO und die Vereinigten Staaten zu verbreiten.
Dazu gehören verleumderische Aktionen in den sozialen Medien, der Einsatz offener und verdeckter Stellvertretermedien im Internet, die Verbreitung von Desinformationen in Fernseh- und Radioprogrammen, die Veranstaltung von Konferenzen, die die Teilnehmer zu der falschen Überzeugung verleiten sollen, dass die Ukraine – und nicht Russland – für die erhöhten Spannungen in der Region verantwortlich ist, sowie der Einsatz von Cyberoperationen zur Diffamierung von Medien und zur Durchführung von Hack-and-Release-Operationen, also das Hacken und anschließende Veröffentlichen privater Daten und Kommunikation.
Es sollte niemanden überraschen, wenn Russland einen Zwischenfall provoziert – und dann versucht, damit eine militärische Intervention zu rechtfertigen, in der Hoffnung, dass die Welt die Taktik zu spät durchschaut.
Die Vorstellung, die Ukraine könne in dieser Situation der Aggressor sein, ist absurd.
Russland ist vor beinahe acht Jahren in die Ukraine einmarschiert.
Russland hält einen Teil der Ukraine, die Krim, militärisch besetzt.
Russland heizt bis heute einen Krieg in der Ostukraine an.
Russland hat keine seiner Minsker Verpflichtungen umgesetzt,verstößt gegen zahlreiche sogar aktiv und weigert sich anzuerkennen, dass es eine Konfliktpartei ist.
Russland hat wiederholt die Demokratie in der Ukraine angegriffen.
Und Russland schickt wieder einmal Truppen an die ukrainische Grenze.
All diese Handlungen verletzen die Souveränität der Ukraine und stellen eine unmittelbare und dringliche Herausforderung für Frieden und Stabilität in Europa dar.
Erwähnenswert ist auch, dass Moskau gleichzeitig die falsche Darstellung verbreitet, die NATO bedrohe Russland, die NATO plane, militärische Infrastruktur in der Ukraine zu stationieren, um einen Konflikt mit Russland zu schüren, die NATO habe nach dem Kalten Krieg geschworen, keine osteuropäischen Länder aufzunehmen, und die NATO habe diese Versprechen gebrochen.
Jede dieser Behauptungen ist falsch.
Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis.
Ihre Aufgabe ist es zu schützen, nicht anzugreifen.
Nach dem Kalten Krieg musste die NATO nicht mehr dieselbe Verteidigungshaltung aufrechterhalten und hat deshalb ihre konventionellen und atomaren Streitkräfte stark reduziert.
Die NATO hat ihre Verteidigungsposition in Europa seitdem erst wieder verstärkt, als Russland 2014 in die Ukraine einmarschierte.
Und selbst dann geschah dies nur in begrenztem und gemäßigtem Umfang, als Vorbereitung des Bündnisses auf weitere russische Militäraktionen gegen seine Mitglieder.
Zudem hat die NATO nie versprochen, keine neuen Mitglieder aufzunehmen.
Das konnte und wollte sie nicht – die „Politik der offenen Tür“ war eine zentrale Bestimmung des Nordatlantikvertrags von 1949, dem Gründungsdokument der NATO.
Michail Gorbatschow, der am Ende des Kalten Krieges russischer Präsident war, wurde 2014 in einem Interview direkt darauf angesprochen und sagte sehr deutlich, dass das Thema der NATO-Erweiterung bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung, die zum Ende des Kalten Krieges führten, überhaupt nicht erörtert wurde.
Eine Zusage, dass die NATO nicht erweitert werden würde, hat es nie gegeben.
Außenminister James Baker hat sich übereinstimmend geäußert.
Über die Mitgliedschaft im Bündnis entscheiden immer die NATO und die Länder, die eine Mitgliedschaft anstreben – und niemand sonst.
Und in der Europäischen Sicherheitscharta von Istanbul hat Russland selbst das Recht von Staaten bekräftigt, Sicherheitsvereinbarungen, einschließlich der Mitgliedschaft in Bündnissen, eigenständig zu regeln oder zu ändern.
Russland verlangt nun, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch die NATO Verträge über den Abzug der auf dem Gebiet von Bündnispartnern in Mittel- und Osteuropa stationierten NATO-Truppen unterzeichnen und der Ukraine den Beitritt zur NATO untersagen.
Sie wollen uns in eine Debatte über die NATO verwickeln, anstatt sich auf das eigentliche Thema zu konzentrieren, nämlich ihr aggressives Vorgehen gegen die Ukraine.
Wir werden uns nicht von diesem Thema ablenken lassen, denn bei dem, was in der Ukraine geschieht, geht es nicht nur um die Ukraine. Es handelt sich um ein umfassenderes Muster destabilisierenden, gefährlichen und oft illegalen Verhaltens Moskaus, mit dem versucht wird, eine Einflusssphäre aufzubauen, die sich über die einst unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder erstreckt, und diese daran zu hindern, ihre demokratischen Bestrebungen als vollständig souveräne, unabhängige Nationen zu verwirklichen.
Erinnern wir daran, dass Russland in den vergangenen zwanzig Jahren in zwei Nachbarländer – die Ukraine und Georgien – einmarschiert ist und gegen den Willen der Regierung Truppen und Munition in Moldawien bereithält. Es hat sich in vielen Ländern in Wahlen eingemischt, auch in unserem eigenen. Es hat chemische Waffen eingesetzt, um Gegner der russischen Regierung zu ermorden – einschließlich der Vergiftung von Sergej und Julia Skripal, als sie sich in England auf dem Gebiet eines NATO-Bündnispartners aufhielten. Es hat gegen internationale Rüstungskontrollvereinbarungen verstoßen, sich aus seit Langem bestehenden vertrauensbildenden und Transparenz fördernden Maßnahmen zurückgezogen, gewalttätige Diktatoren unterstützt und in Ländern wie Syrien Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglicht.
Originaltext: Secretary Antony J. Blinken at a Press Availability