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November 7, 2022

Außenminister Blinken beim Zukunftsforum in Münster 

Am 2. und 3. November 2022 fand in Münster erstmals das deutsch-amerikanische Zukunftsforum statt, das künftig jedes Jahr gemeinsam vom Auswärtigen Amt und dem US-Außenministerium ausgerichtet werden soll. In diesem Rahmen sprachen US-Außenminister Antony Blinken und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am 3. November über „Die Zukunft der Demokratie in der digitalen Welt“. Das Gespräch wurde von Ingo Zamperoni moderiert. Wir haben das Eingangsstatement von US-Außenminister Blinkens übersetzt.  

Ich möchte zunächst einmal sagen, dass es wunderbar ist, mit Ihnen allen hier zu sein, und mich für die Moderation bedanken, Ingo. Ich danke auch Bertelsmann für die Unterstützung und dieser Zusammenkunft. Ganz besonders freue ich mich, mit meiner Kollegin und Freundin Annalena [Baerbock] hier zu sein. Wir arbeiten unglaublich eng zusammen, wie es sich für Vertreter zweier Länder gehört, die sehr enge Arbeitsbeziehungen haben und haben müssen, um den bestehenden Herausforderungen gerecht zu werden.

Ich muss sagen, ich stimme Annalena in allen Punkten vehement zu.  Was keineswegs ungewöhnlich ist. Im Gegenteil. Aber lasse Sie mich das so ausdrücken, und ich füge noch ein paar kurze Gedanken hinzu, die absolut deckungsgleich mit dem sind, was Annalena gesagt hat.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Geschichte. Die Zeit nach dem Kalten Krieg ist vorbei. Der Wettbewerb um die Ausgestaltung dessen, was nun folgt, ist im Gange, und Technologien stehen im Zentrum dieses Wettbewerbs. In jedem Fall werden dadurch unsere Volkswirtschaften umgerüstet, unsere Streitkräfte reformiert und unser Leben im wahrsten Sinne des Wortes neu gestaltet, eine Erfahrung, die wir bereits durch die Telefone – die Computer in unseren Taschen –, gemacht haben. Wir wissen, welche tiefgreifenden Auswirkungen das auf unser Leben hat.

Deutschland und die Vereinigten Staaten haben beide eine sehr positive, affirmative Vorstellung von dieser Neugestaltung. Wir denken dabei an neue Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten. Wir denken an die Nutzung von Technologien, die dafür sorgen, dass wir dem Klimawandel wirklich beikommen können. Wir denken an den Einsatz von Technologien, die uns helfen, unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften unabhängig von fossilen Brennstoffen mit Energie zu versorgen. Wir denken an die Sicherstellung einer nachhaltigen, gesunden Nahrungsmittelversorgung auf der ganzen Welt. Wir denken daran, Lieferketten wirklich resilient zu machen. Und zu guter Letzt denken wir auch daran, dafür zu sorgen, dass es für unsere Bevölkerung in Zukunft gute Arbeitsplätze gibt. In all dem liegen bestimmte Herausforderungen.

Aber wie Annalena schon sagte und wie Sie alle wissen und, nicht erst heute, sondern schon seit Längerem immer wieder besprochen haben, wissen wir auch, dass Technologie in erheblichem Maße missbraucht werden kann. Und ich finde, Annalena hat das ganz richtig dargestellt. Sie muss für die Menschen und nicht gegen sie eingesetzt werden. Aber sie wird gegen sie eingesetzt. Sie wird auf unterschiedliche Weise gegen sie eingesetzt: um ihre Privatsphäre zu untergraben, Menschenrechte zu beschneiden, um Menschen im wahrsten Sinne online zu diskriminieren, insbesondere Frauen und Minderheiten, wie wir es überall auf der Welt erleben. Sie wird verwendet, um Falschinformationen zu verbreiten und Desinformation zu betreiben, neben der Korruption meines Erachtens zwei der zerstörerischsten Kräfte in jeder Demokratie. Und natürlich gibt es weitreichende Sicherheitsfragen, für die wir und andere verantwortlich sind, wo Technologie unheilbringend eingesetzt werden kann, z. B. durch Cyberangriffe auf Infrastruktur.

Das grundlegende Argument von Annalena, dem ich absolut zustimme, ist, dass Zusammenarbeit das oberste Gebot ist, um sowohl die Vorteile der Technologien zu nutzen als auch mit den Nachteilen umzugehen. Kein Land – auch nicht die Vereinigten Staaten oder Deutschland – kann diese Herausforderungen wirksam allein angehen. Mehr denn je seit ich mit diesen Fragen befasst bin, und das sind nun bald 30 Jahre, ist es wichtig, Wege der Zusammenarbeit und der Koordinierung zu finden. Das gilt umso mehr, wenn es um Technologie geht, um die digitale Welt, in der wir leben.

Annalena hat über die Arbeit gesprochen, die wir gemeinsam leisten, um Standards zu setzen und Regeln für die Nutzung von Technologien einzuführen. Das ist heute wichtiger denn je. Soweit es eine Verbindung von Technologie und Werten besteht, wollen wir dafür sorgen, dass sich die Werte, für die wir, die Vereinigten Staaten und Deutschland, gemeinsam stehen, durchsetzen werden. Und das bedeutet, die mühsame, alltägliche Arbeit zu machen, am Tisch zu sitzen, uns abzustimmen und dabei zu sein, wenn diese Regeln formuliert werden.

Es geht auch darum, beim Einsatz und der Nutzung von Technologie gemeinsam zu versuchen, einen Wettlauf an die Spitze anzustoßen, statt uns gegenseitig zu unterbieten. Wenn uns das gelingt, dann werden die Länder, die sich jetzt möglicherweise in einem Unterbietungswettlauf befinden, eine Entscheidung fällen müssen, ob sie sich uns in diesem Wettlauf an die Spitze anschließen oder auf lange Sicht ein Scheitern riskieren wollen, wenn wir es richtig angehen.

Aber es fängt alles bei der Abstimmung an. Alles fängt mit der Arbeit an, die wir gemeinsam machen. Und ich muss sagen, eines der Dinge, für die ich, für die die Vereinigten Staaten am dankbarsten sind, ist diese Partnerschaft mit Deutschland und, in meinem Fall, insbesondere die Partnerschaft mit der deutschen Außenministerin und ihre Führungsstärke.

Diese war im letzten Jahr recht außergewöhnlich. Wie Sie wissen, haben wir uns aufgrund der Arbeit der G7, aber auch auf bilateraler Ebene, in anderen Foren, denen wir angehören, viele Male getroffen. Das hat viel mit der Führungsrolle zu tun, die sie bei diesen Themen täglich übernimmt. Das stärkt unsere Fähigkeit, diese Probleme anzugehen, enorm.

Und dann ist da dieses grundsätzliche Spannungsfeld zwischen dem, wofür wir als Demokratien stehen und der Frage, wie die Technologie da hineinpassen. Entweder bringen sie unsere Demokratien voran oder untergraben sie. Wir alle erleben das jeden Tag.

Als ich jung war, haben mich viele der klassischen sozialen Denker der vergangenen Jahrhunderte beeinflusst, beispielsweise John Stuart Mill. John Stuart Mills Grundgedanke war, dass wir uns auf einem Marktplatz der Ideen bewegen, und wenn dieser Marktplatz gut funktioniert, werden die besten Ideen miteinander konkurrieren und am Ende wird die beste Idee gewinnen. Das ist eine wunderbare Vorstellung. Es ist aber nicht die Realität, und zwar deshalb, weil Technologie, wenn sie missbraucht wird, den Markt verzerrt.

Wir müssen dafür gemeinsam Wege erarbeiten – und wenn ich gemeinsam sage, meine ich genau das, was Annalena gesagt hat. Es betrifft nicht nur Regierungen. Das kann es nicht. Die Zivilgesellschaft, NGOs, die Privatwirtschaft und die Wissenschaft – wir alle müssen uns die Hände reichen und gemeinsam agieren. Eines der Dinge, die sich in der Zeit, in der ich in der Regierung arbeite, am tiefgreifendsten verändert hat, ist der Bereich Information und Digitalisierung. Und auch die Art und Weise, wie wir darüber denken, hat sich rasant weiterentwickelt.

Als ich vor 30 Jahren in der Politik angefangen habe, passierten jeden Tag zwei Dinge. Im Weißen Haus, wo ich gearbeitet habe, geschahen jeden Tag die zwei immer gleichen Dinge. Man stand morgens auf, öffnete die Haus- oder Wohnungstür und holte die Zeitung herein – in unserem Fall die New York Times, die Washington Post oder das Wall Street Journal. Und wenn man einen Fernseher im Büro hatte, machte man abends um halb 7 die Nachrichten an. Und das war‘s. Das war unser aller gemeinsamer Nenner.

Inzwischen haben wir eine massive Demokratisierung der Informationstechnologie hinter uns, was wir, wie bereits gesagt, eigentlich für eine gute Entwicklung halten. Aber wir wissen, dass dadurch auch ein allen offenstehender Informationsdschungel entstanden ist, in dem leider manchmal Macht gleichbedeutend mit Recht ist: Die Lautesten setzen sich durch, auch wenn das, was sie sagen, nicht den Tatsachen entspricht. Niemand von uns wird dieses Problem allein in den Griff zu bekommen können; die einzelnen Staaten können es nicht allein lösen, die Privatwirtschaft wird es kaum allein lösen, NGOs haben vielleicht gute Ideen, aber sie müssen zur Anwendung gebracht werden.

Einer der Gründe, weshalb ich mich also so freue, dass Sie und wir alle zusammen hier sind, ist, dass wir nach neuen Möglichkeiten der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit schauen können. Nur so werden wir es schaffen.

Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen. Dass wir hier sind, ist sehr passend, und ich danke Annalena dafür, dass sie uns zum G7-Treffen und auch zu dieser Konferenz hier nach Münster eingeladen hat. Der Westfälische Friede hat grundsätzliche Prinzipien der internationalen Beziehungen festgelegt, die Russland heute in der Ukraine in Frage stellt: die territoriale Integrität und die Souveränität der Staaten. Wenn wir zulassen, dass dies ungestraft infrage gestellt wird, beschädigt es das Fundament der internationalen Ordnung, sodass sie ausgehöhlt und schließlich zum Einsturz gebracht werden wird. Und niemand von uns kann sich leisten, das zuzulassen.

Ebenfalls bemerkenswert an diesem Ort ist, dass er im 14. und 15. Jahrhundert Teil der Hanse war, sie sich bemühte, im heutigen Deutschland und in ganz Europa Handelsrouten zu schaffen und Menschen, Produkte und Ideen zu verbinden. Im besten Fall geht es darum auch in der digitalen Welt. Die Herausforderung für uns ist, irgendwie dafür zu sorgen, dass diese digitale Welt ihren besten und nicht ihren schlechtesten Eigenschaften gerecht wird.

Technologie an sich ist weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, was wir daraus machen, und das ist unsere gemeinsame Herausforderung.

Originaltext: Remarks at a U.S.-German Futures Forum Moderated Discussion with German Foreign Minister Annalena Baerbock