Am 23. Februar 2023 veröffentlichte das US-Außenministerium einen Bericht seines Global Engagement Center (GEC), in dem russische Desinformation zur Rechtfertigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine entkräftet wird. Weiterführende Links und Quellenangaben finden Sie im englischen Originaltext, zu dem wir am Ende der Übersetzung verlinkt haben.
Es ist offensichtlich, dass es den Raketen und der Artillerie Russlands nicht gelingen wird, uns zu spalten und uns von unserem Weg abzubringen. Ebenso offensichtlich sollte sein, dass man die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht mit Lügen oder Einschüchterung, gefälschten Informationen oder Verschwörungstheorien spalten kann.
Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj am 16. JULI 2022
Am 24. Februar 2022 erwachten Millionen von Menschen in der Ukraine vom Lärm der Luftangriffssirenen, einem Geräusch, dass seit 80 Jahren nicht mehr zu hören gewesen war. Russland hatte eine groß angelegte Invasion begonnen. Im Vorfeld dieses schicksalhaften Morgens und im Jahr danach hat das russische Desinformations- und Propaganda-Ökosystem eine Reihe falscher Narrative verbreitet, um die Welt über die neo-imperialen Absichten des Kreml zu täuschen, den Angriffskrieg gegen die Ukraine als notwendige Reaktion auf angebliche Bedrohungen durch die Vereinigten Staaten und die NATO darzustellen und zu versuchen, einen nicht zu rechtfertigenden Krieg zu rechtfertigen. Der Kreml änderte regelmäßig seine falschen Narrative, um von seinen Misserfolgen auf dem Schlachtfeld und seiner politischen Isolation abzulenken. Dieser Bericht befasst sich mit fünf der markantesten falschen Narrative, die das russische Desinformations- und Propaganda-Ökosystem verbreitet: 1) Russland war vor der Invasion im Februar 2022 von der NATO umzingelt 2) die Ukraine begeht im Donbass einen Völkermord; 3) die ukrainische Regierung muss „entnazifiziert und entmilitarisiert“ werden; 4) die Wiederherstellung traditioneller Werte erfordert eine „Entsatanisierung“ der Ukraine; und 5) Russland muss in der Ukraine kämpfen, um seine Souveränität gegen den Westen zu verteidigen.
Falsches Narrativ Nr. 1: „Umzingelung“ durch die NATO und Russland „ist nicht der Aggressor“
Eine der ersten vom Kreml erdachten Rechtfertigungen für den Krieg ist die falsche Behauptung, die NATO und „der Westen“ seien Aggressoren, die Russlands Sicherheit bedrohten. In den Monaten vor dem 24. Februar 2022 forderte Russland Sicherheitsgarantien, unter anderem auch Beschränkungen hinsichtlich des NATO-Beitritts einzelner Länder, eine Haltung, die der Ukraine und anderen Ländern ihr souveränes Recht abspricht, selbst über ihre Außenpolitik zu bestimmen. Während Moskau bis zu 190.000 Soldatinnen und Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammenzog, verbreitete das russische Außenministerium Desinformation, um die Absichten des Kreml zu verschleiern, und behauptete, Russlands Streitkräfte stünden nicht an der Grenze zur Ukraine, vielmehr schürten die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner Hysterie. Präsident Putin machte zu Unrecht die NATO für die eskalierenden Spannungen verantwortlich, behauptete, er plane keine Invasion, und beschuldigte die Vereinigten Staaten, die Ukraine als „Instrument zu benutzen, um Russland in die Schranken zu weisen“. Um die Schuld von sich zu weisen, verbreiteten Desinformationskanäle, die mit dem russischen Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), dem Militärischen Nachrichtendienst (GRU) und dem Auslandsgeheimdienst (SVR) in Verbindung stehen, die falschen Behauptungen weiter und bezeichneten die Warnungen der Vereinigten Staaten und der NATO vor einer möglichen Militäroffensive Russlands gegen die Ukraine als „westliche Hysterie“, die dazu diene, „die Ukraine in einen Krieg zu ziehen“.
Im Laufe des Kriegsjahres veränderte der Kreml dieses Desinformationsnarrativ, wonach der Westen auf einen Krieg hinarbeite, zu einem Narrativ, wonach die Vereinigten Staaten und die NATO durch ihre Unterstützung für die Selbstverteidigung der Ukraine bemüht seien, den Krieg zu verlängern oder anzuheizen. Nach einem NATO-Ministertreffen im November 2022 behauptete der russische Außenminister Sergej Lawrow, die „globale Mehrheit“ wisse, welche Gefahren von der NATO ausgingen und beschuldigte das Bündnis, die Ukraine zur Fortsetzung des Kriegs gedrängt zu haben. Desinformationsmedien wie die vom FSB beauftragte News Front und der staatlich gelenkte Sender Sputnik zitierten angebliche „Fachleute“, die behaupteten, die NATO gieße mit der Zusage weiterer Hilfe für die Ukraine „Öl ins Feuer“. Die vom SVR gelenkten Strategic Culture Foundation und Oriental Review warnten, die Ukraine werde versuchen, „die NATO in einen Krieg innerhalb der ukrainischen Grenzen hineinzuziehen“ und behauptete, bewiesen zu haben, dass die NATO den Konflikt in der Ukraine provoziert habe.
Der Kreml greift dieses Desinformationsnarrativ immer dann wieder auf, wenn die Partner der Ukraine zusätzliche Militärhilfe für die Ukraine ankündigen. Die neueste Wendung, die kolportiert wurde, nachdem die Vereinigten Staaten und Deutschland vereinbart hatten, der Ukraine moderne M1-Abrams- und Leopard-Panzer zu liefern, wirft der NATO Russophobie vor. Der stellvertretende Außenminister Rjabkow griff dieses Narrativ im Januar 2023 mit den Worten auf: „Die NATO ist mit manischer Beharrlichkeit… immer weiter an die russischen Grenzen herangerobbt und hat gleichzeitig unsere Nachbarländer mit russophoben Horrorgeschichten zombifiziert.“
Russland verbreitet Desinformation über die NATO als Aggressor, um die Fakten zu verschleiern. Allein Russland hat diesen Krieg begonnen, nicht die Ukraine. Russland ist der Aggressor, nicht die NATO. Wie US-Außenminister Antony Blinken am 22. September 2022 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärte: „Wenn Russland die Kampfhandlungen einstellt, endet der Krieg. Wenn die Ukraine die Kampfhandlungen einstellt, ist es das Ende der Ukraine.“
Falsches Narrativ Nr. 2: „Ukrainische Provokationen“ und „Völkermord im Donbass“
Während Russland den Mythos einer Aggression durch die NATO verbreitet, stellt es die Ukraine zu Unrecht so dar, als plane sie in der ostukrainischen Region Donbass militärische Maßnahmen gegen ethnische Russinnen und Russen. Im Januar 2022 behaupteten Beamte der Russischen Föderation, Kiew habe „die Hälfte seiner Soldatinnen und Soldaten“ in die von Russland besetzten Gebiete des Donbass entsandt und die Ukraine habe ihre Angriffe auf die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk verstärkt. Der Kreml behauptete, ein Einmarsch Kiews in den russisch kontrollierten Donbass stehe unmittelbar bevor, während die russischen Stellvertreterbehörden der Ukraine vorwarfen, sie beabsichtige, chemische Waffen entlang der Kontaktlinie zwischen den ukrainischen Verteidigungskräften und den von Russland und seinen Stellvertretern in der Ukraine eingesetzten Streitkräfte einzusetzen. Diese falsche Behauptung wurde vermehrt verbreitet, nachdem die Vereinigten Staaten die Pläne des Kreml zur Durchführung einer Operation unter falscher Flagge im russisch kontrollierten Donbass enthüllt hatten, um einen Vorwand für eine weitere Invasion zu schaffen. Die Vereinigten Staaten haben diese Darstellung am 3. Februar im Vorfeld widerlegt, als sie den Plan des Kreml zur Verwendung eines vom Geheimdienst gefälschten Videos aufdeckten, in dem Explosionen, Leichen, zerstörte Gebäude und Militärausrüstung sowie Schauspielerinnen und Schauspieler zu sehen sind, die sich als Trauernde ausgeben. Russlands Desinformations- und Propaganda-Ökosystem beschuldigte die Ukraine außerdem zu Unrecht des Terrorismus, behauptete, die Ukraine bereite eine „chemische Katastrophe“ vor und spekulierte, die Ukraine werde einen „vernichtenden Schlag“ gegen das Kernkraftwerk Saporischschja durchführen.
Präsident Putin hat dieses Desinformationsnarrativ in einen Vorwand für einen Krieg umgemünzt. In einer Erklärung vom 15. Februar behauptete er zu Unrecht, dass „im Donbass ein Völkermord stattfindet“. Im Anschluss an Putins Erklärung eröffnete der russische Untersuchungsausschuss ein Strafverfahren im Zusammenhang mit Anschuldigungen, im Donbass gäbe es „Massengräber mit Zivilisten“. Der Desinformations- und Propagandaapparat des Kreml verbreitete weiterhin falsche Narrative, in denen die Ukraine des „Völkermords“ beschuldigt wurde, unter anderem auch über die Website Tragedy of Donbas, die nach Angaben der Washington Post vom russischen Militärgeheimdienst betrieben wird. Von der russischen Regierung unterstützte Influencer nutzen ein gegen die Ukraine, die NATO, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten gerichtetes Netzwerk von Websites und Blogs, zur Weiterverbreitung von Desinformation, darunter auch dieses Narrativ.
Putins Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 untermauerte dieses haltlose Narrativ als Rechtfertigung für einen Krieg. Unter dem Vorwand, die von Russland kontrollierten so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anzuerkennen, entsandte Russland „friedenserhaltende“ Truppen in den Donbass. Um die Ukraine in den Augen der russischen Öffentlichkeit zu dämonisieren, beschuldigte Putin die Ukraine seit 2014 zu Unrecht, einen „Völkermord“ zu begehen und die russischsprachige Bevölkerung im Donbass zu diskriminieren. So schuf er einen Vorwand für die angebliche Notwendigkeit, „unsere eigenen Leute zu schützen“, indem er seine Aggression mehr schlecht als recht als Operation zur Verhinderung eines nichtexistenten „Völkermords“ verschleierte.
Unabhängige Medien, Fachleute für Desinformation und multilaterale internationale Menschenrechtsorganisationen haben dieses Narrativ eindeutig widerlegt. Das Faktencheck-Team der BBC wies darauf hin, dass es „keine Beweise für einen Völkermord gibt“. Polygraph.info widerlegte diese Behauptung, indem es darauf hinwies, dass Putin und andere Vertreterinnen und Vertreter der Russischen Föderation während der russischen Invasion in Georgien im Jahr 2008 den Begriff „Völkermord“ eher frei verwendet hatten. Polygraph.info hob zudem hervor, dass „der [einem Völkermord] vielleicht am ehesten gleichkommende Vorfall von den russischen Streitkräften 2014 in Slowjansk begangen wurde, wo die ukrainischen Streitkräfte, die die Stadt zurückerobert hatten, ein Massengrab mit 20 Leichen fanden“. Der Europarat, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte und die im Rahmen des Moskauer OSZE-Mechanismus eingesetzte Expertenmission stellten unabhängig voneinander fest, dass es keine Beweise für eine Verfolgung ethnischer Russinnen und Russen oder russischsprachiger Menschen durch ukrainische Behörden gebe.
Dieses Narrativ taucht immer dann auf, wenn der Angriffskrieg des Kreml strategische Rückschläge erfährt. Eine vom GEC durchgeführte Analyse der Daten sozialer Medien auf Telegram zeigt, dass der Austausch in russischer Sprache über den „Völkermord im Donbass“ bei solchen Rückschlägen zunimmt. So griff der Kreml dieses Desinformationsnarrativ im Juni 2022 wieder auf, einem Monat, in dem Moskau mehrere strategische Misserfolge verzeichnete. Als die ersten Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme (HIMARS) in der Ukraine eintrafen und die EU der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannte, kündigte das US-Justizministerium Maßnahmen an, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, indem „bei der Identifizierung, Ergreifung und strafrechtlichen Verfolgung von an Kriegsverbrechen und Gräueltaten in der Ukraine beteiligten Personen“ geholfen würde. Die russische Botschaft in Washington reagierte mit der falschen Behauptung des Kreml, wonach die Ukraine Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung verübe.
Dieses Schaubild zeigt den Umfang der Inhalte und Interaktionen im Zusammenhang mit dem Narrativ „Völkermord im Donbass“ auf Telegram, gemessen an der Anzahl der Nachrichten pro Tag. Es werden die wichtigsten Meilensteine festgehalten, darunter der Beginn der groß angelegten Invasion am 24. Februar, die Rückschläge für Russland auf dem Schlachtfeld sowie die Gegenoffensiven der Ukraine.
Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive in Cherson im September, die rasche Befreiung der Region Charkiw und die anschließenden Mobilisierungsankündigungen Russlands gaben dem Kreml einen zusätzlichen Grund, dieses Narrativ wieder aufzunehmen. Präsident Putin begann den Monat September mit der durch Desinformation geprägten Behauptung, Russland versuche nur den „Völkermord“ zu beenden, den Kiew angeblich seit 2014 verübe. In seiner Rede vom 30. September, in der er seine Absicht ankündigte, nach den vorangegangenen Scheinreferenden die Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zu annektieren, behauptete Putin erneut zu Unrecht, dass „die Menschen im Donbass acht lange Jahre einem Völkermord, Beschuss und Blockaden ausgesetzt waren, einer kriminellen Politik, die darauf abzielt, den Hass auf Russland und alles Russische zu kultivieren“, und beschuldigte die Ukraine, „den russischsprachigen Menschen innerhalb ihrer Grenzen das gleiche Schicksal bereiten zu wollen, das der ‘koloniale’ Westen der ganzen Welt zufügen will“.
Der Kreml gibt vor, die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine gegen einen nicht existierenden „Völkermord“ zu verteidigen. Doch seit acht Jahren bringen die in die Ukraine einmarschierten russischen Streitkräfte und ihre Stellvertreter den überwiegend russischsprachigen Teilen der Ukraine Tod und Zerstörung. Millionen Menschen sind aus den Gebieten im Osten und Süden der Ukraine vor der russischen Besatzung geflohen. Die Zerstörung im russischsprachigen Mariupol ist verheerend. Im März 2022 kam die US-Regierung zu dem Schluss, dass Angehörige der russischen Streitkräfte Kriegsverbrechen begangen haben, indem sie Filtrationsmaßnahmen durchführten und Tausende ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten unrechtmäßig deportierten. Im Februar 2023 stellte die US-Regierung aufgrund der sich häufenden Beweise aus den von russischer Besatzung befreiten russischsprachigen Gebieten der Ukraine fest, dass Angehörige der russischen Streitkräfte sowie Vertreterinnen und Vertreter der russischen Regierung in der Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, darunter die Folterung von inhaftierten Zivilistinnen und Zivilisten durch Schläge, Stromschläge und Scheinhinrichtungen, Vergewaltigungen und hinrichtungsartige Morde an ukrainischen Männern, Frauen und Kindern.
Russland versucht, der Ukraine ihre Souveränität und Unabhängigkeit zu nehmen und ihre Geschichte und Kultur zu unterdrücken. Während Russland Cherson besetzte, leerten die Marionettenbehörden der Stadt Bibliotheken mit ukrainischer Literatur und plünderten Museen mit Kulturgütern. Die russische Regierung hat systematisch und unrechtmäßig mindestens 6.000 Kinder aus der Ukraine verschleppt und in ein Netz von Einrichtungen auf der von Russland besetzten Krim und in ganz Russland verbracht, wo sie „umerzogen“ oder in ganz Russland zur Adoption freigegeben werden. Diese Kinder werden vielleicht nie erfahren, dass sie aus der Ukraine stammen. Der Kreml scheint entschlossen, die Existenz der Ukraine als Staat zu leugnen, indem er versucht, die Vergangenheit und Zukunft des Landes auszulöschen.
Falsches Narrativ Nr. 3: „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“
Präsident Putin beschwor in seiner Rede vor dem Morgengrauen des 24. Februar, mit der er die groß angelegte Invasion einleitete, das wohl gängigste Desinformationsnarrativ des Kreml. Er sagte: „Zweck dieser Operation ist es, die Menschen zu schützen, die das Kiewer Regime nun schon seit acht Jahren erniedrigt und dem Völkermord aussetzt. Aus diesem Grund werden wir versuchen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu ‘entnazifizieren’.“ Er erhob unsinnige Anschuldigungen gegen die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine und nannte sie „eine Bande von Drogensüchtigen und Neonazis, die sich in Kiew niedergelassen und die gesamte ukrainische Bevölkerung als Geisel genommen haben“.
Selenskyj, den jüdischen Präsidenten der Ukraine, des Neonazismus zu bezichtigen, ist absurd. Doch Russlands Behauptungen sind ebenso kalkuliert wie abwegig. Seit Jahren setzt der Kreml die so genannte „Russophobie“ systematisch mit Neonazismus gleich. Die russische Regierung setzt immer wieder auf Antisemitismus, um falsche Informationen über Moskaus Krieg in der Ukraine zu verbreiten. Der Kreml instrumentalisiert schon länger die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, um nationalistische Gefühle im eigenen Land zu wecken und gleichzeitig seine geopolitischen Ambitionen voranzutreiben. Im Januar 2023 erweiterte Außenminister Lawrow die Formel „Unterstützung für die Ukraine = Russophobie = Neonazismus“, indem er die Unterstützung des Westens /westliche Unterstützung für die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen Russland, unzutreffenderweise mit dem Überfall NS-Deutschlands auf die Sowjetunion gleichsetzte. Lawrow verwies auf Hitlers Völkermord an den Juden, um die sogenannte Judenfrage zu lösen, und beschuldigte den Westen der Verschwörung „zur endgültigen Lösung der russischen Frage“.
Dieses Narrativ trat in den Vordergrund, als Russland zu Beginn des Krieges schwere Verluste auf dem Schlachtfeld hinnehmen musste. In seiner Rede am 9. Mai anlässlich des Sieges der Alliierten im Zweiten Weltkrieg verstärkte Putin dieses Narrativ weiter und betrieb zur Rechtfertigung seines brutalen Kriegs gegen die Ukraine Geschichtsverfälschung. Putin behauptete zu Unrecht, sein Angriffskrieg sei ein „heiliger“ und „patriotischer“ Akt, der mit dem sowjetischen Kampf gegen Nazideutschland – in Russland als „Großer Vaterländischer Krieg“ bekannt – oder mit jedem anderen Krieg, in dem Russland „sich selbst verteidigt hat“ vergleichbar sei. Putin wiederholte seine üblichen Propagandaparolen und beschuldigte den Westen, traditionelle Werte „auszulöschen“, die Geschichte zu verfälschen und Russophobie zu fördern. Der Kreml manipuliert und verfälscht immer wieder die Geschichte, um den Stolz der russischen Bevölkerung auf die Opfer auszunutzen, die sie beim Sieg über den Nationalsozialismus gebracht hat. Der Kreml bezeichnet auch die ukrainische „Revolution der Würde“ in den Jahren 2013/2014 immer wieder als „faschistischen Putsch“. Diese Geschichtsverfälschungen dienen einem strategischen Zweck: Sie sollen Patriotismus wecken und in Russland Unterstützung für Putins Krieg gegen die Ukraine fördern.
Obwohl das Narrativ der „Entnazifizierung“ in Putins Rede vom 24. Februar 2022 als wichtigste Begründung diente, fand es offenbar in Russland nicht lange Beachtung. Die Analyse des GEC zur russischsprachigen Kommunikation im Internet zeigt, dass Ende Februar, unmittelbar nach der Rede, im Internet ein Anstieg des Gesprächsaufkommens zu diesem Thema zu verzeichnen war. Seit März 2022 verwenden russische Regierungsvertreterinnen und -vertreter diese Version des Narrativs immer seltener. Den ganzen März über beteiligten sich die Delegationen Russlands und der Ukraine an mehreren Verhandlungsrunden über die Einrichtung humanitärer Korridore, um die Evakuierung der Zivilbevölkerung zu erleichtern und einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Tatsache, dass das Narrativ der „Entnazifizierung“ seltener verbreitet wurde, deutet möglicherweise darauf hin, dass die kognitive Dissonanz zwischen Verhandlungen mit ukrainischen Regierungsvertreterinnen und -vertretern, während man gleichzeitig versucht, sie zu „entnazifizieren“, selbst für den Kreml zu groß ist.
Dieses Schaubild zeigt den Umfang der Inhalte und Interaktionen im Zusammenhang mit dem Narrativ „Entnazifizierung“ auf Telegram, gemessen an der Anzahl der Nachrichten pro Tag. Es werden die wichtigsten Meilensteine festgehalten, darunter der Beginn der groß angelegten Invasion am 24. Februar, die Rückschläge für Russland auf dem Schlachtfeld sowie die Gegenoffensiven der Ukraine.
Doch die Atempause bei der Verbreitung des Narrativs von der „Entnazifizierung“ war nur von kurzer Dauer. Ende März und Anfang April erreichte das Narrativ unter den russischsprachigen Beiträgen auf Telegram die stärkste Verbreitung. Als nach dem Abzug der russischen Truppen in Butscha Beweise für Kriegsverbrechen und Massengräber auftauchten, reagierte das Desinformations- und Propaganda-Ökosystem des Kreml auf den weltweiten Aufschrei über die grausamen Enthüllungen, indem es zunächst die Beteiligung seiner Streitkräfte leugnete, dann den Wahrheitsgehalt der Berichte infrage stellte und das Narrativ der „Entnazifizierung“ wieder hervorholte. Das russische Verteidigungsministerium beschuldigte die Ukraine zu Unrecht, Methoden anzuwenden, die Russland selbst einsetzt, und behauptete, dass „die Fotos und Videoaufnahmen aus Butscha ein weiterer Schwindel sind, eine Inszenierung und Provokation des Regimes in Kiew für die westlichen Medien“. Das russische Außenministerium behauptete wahrheitswidrig, es gäbe „Anzeichen für gefälschte Videos und andere Fälschungen“. Die russischen Botschaften und Medien weltweit verbreiteten die leicht zu widerlegenden Verschwörungsgeschichten, einschließlich der unzutreffenden Behauptung, die Ukraine habe unechte Leichen verwendet, die „wieder zum Leben erweckt“ wurden, nachdem die Kameras nicht mehr liefen. Obwohl die New York Times, Bellingcat und die BBC zahlreiche Beweise vorlegten, die Russlands Behauptungen widerlegten und seine Beteiligung nachwiesen, versuchte die Desinformationsmaschinerie des Kreml weiter, die Wahrheit zu vertuschen. Das staatliche russische Medienunternehmen RIA Novosti versuchte, hiervon durch die Veröffentlichung eines Artikels abzulenken, in dem die „Entnazifizierung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung“ durch „Umerziehung, ideologische Unterdrückung … und strenge Zensur“ gefordert wurde, „und zwar nicht nur im politischen Bereich, sondern zwangsläufig auch im Bereich der Kultur und Bildung“. Der Artikel sprach sich außerdem für die Auslöschung der Ukraine als Staat aus, unter anderem durch „Ent-Ukrainisierung“, und behauptete, „ein entnazifiziertes Land kann nicht souverän sein“.
Der groteske Ansatz dieses Narrativs ist nicht nur für das russische Desinformationsökosystem von Nutzen. Im Vergleich zu den anderen vier falschen Narrativen des Kreml, die in diesem Bericht behandelt werden, wurde „Entnazifizierung“ gemessen am täglichen Volumen dessen, was im Internet geteilt wurde, am häufigsten verwendet und weist, ausgehend von der Zahl der Reaktionen und geteilten Inhalte, weiterhin die meisten Interaktionen auf. Russlands Desinformations- und Propaganda-Ökosystem greift auf das Narrativ der „Entnazifizierung“ zurück, wenn es die Verantwortung für strategische Rückschläge von sich weisen will, die Moskau hinnehmen muss.
Diese Grafik zeigt den Umfang der Inhalte und Interaktionen im Zusammenhang mit allen fünf Narrativen auf Telegram, gemessen an der Anzahl der Nachrichten pro Tag. Es werden die wichtigsten Meilensteine festgehalten, darunter der Beginn der groß angelegten Invasion am 24. Februar, die Rückschläge für Russland auf dem Schlachtfeld sowie die Gegenoffensiven der Ukraine.
Präsident Putin griff dieses Narrativ in seiner Botschaft zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar 2023 schamlos wieder auf. Er sagte: „Wenn man die Lehren der Geschichte vergisst, führt das zur Wiederholung schrecklicher Tragödien. Ein Beweis dafür sind die von Neonazis in der Ukraine begangenen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, ethnischen Säuberungen und Strafaktionen.“ In seiner Rede am 1. Februar zum 80. Jahrestag der Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg folgte er dem gleichen Narrativ und bezichtigte den Westen des Nationalsozialismus: „Jetzt sehen wir leider, dass die Ideologie des Nationalsozialismus – diesmal in ihrem modernen Gewand – erneut eine direkte Bedrohung für unsere nationale Sicherheit darstellt, und wir sind immer wieder gezwungen, uns der Aggression des kollektiven Westens zu widersetzen.“ Seine rhetorische Eskalation folgte auf die Ankündigung Deutschlands und der Vereinigten Staaten ein paar Tage zuvor, Leopard- und M1-Abrams-Panzer an die Ukraine liefern zu wollen, um sie bei der Selbstverteidigung gegen Russlands brutalen Angriff zu unterstützen.
Die Beweise für die Verbrechen des Kreml gegen die ukrainische Zivilbevölkerung in den von Russland besetzten Gebieten häufen sich ebenso schnell wie die ungeheuerlichen Lügen des Kreml. Bis Ende Januar 2023 ermittelte die Ukraine in fast 67.000 Fällen wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie unter anderem Massenexekutionen, Vergewaltigungen, Folter, Entführungen und Zwangsdeportationen, willkürliche Bombenangriffe sowie gezielte Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten sowie zivile Objekte. Unabhängige Ermittlungen, Medienunternehmen, die unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Ukraine und Sachverständigeneinsätze im Rahmen des Moskauer Mechanismus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa haben alle dokumentiert, dass Angehörige der russischen Streitkräfte wiederholt Kriegsverbrechen und andere Gräueltaten in der Ukraine begangen haben. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschahen nicht im luftleeren Raum. Sie sind Teil der ausgedehnten und systematischen Angriffe des Kreml auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Bei diesen skrupellosen Übergriffen spielten das vom Kreml verbreitete Desinformationsnarrativ der „Entnazifizierung“ sowie die methodische rhetorische Entmenschlichung der ukrainischen Bevölkerung eine Rolle. Überlebende der russischen Besatzung von Butscha beschrieben, dass die russischen Streitkräfte von Tür zu Tür gingen und die Wohnhäuser durchsuchten, um „Nazis zu jagen“. Als die Stadt Cherson von den ukrainischen Streitkräften befreit wurde, sagten Zeugen über die russische Besatzung: „Wenn die Russen dich Ukrainisch sprechen hören, halten sie dich für einen Nazi. Sie überprüfen soziale Netzwerke und Tätowierungen. Wenn du ukrainische Symbole auf deinem Körper trägst, bist du in Schwierigkeiten.“
Falsches Narrativ Nr. 4: Die Umdeutung des Krieges von „Entnazifizierung“ zu „Entsatanisierung“
Während sich der Krieg dem ersten Jahrestag nähert, versucht der Kreml, seine durch nichts zu rechtfertigendes Handeln zu rechtfertigen und behauptet nun sogar, er bekämpfe „westlichen Satanismus“. Zwar verteufelten die Propagandisten des Kreml die Ukrainerinnen und Ukrainer spätestens seit April 2022 als Satanisten, zu einem offiziellen Narrativ wurde diese Anschuldigung allerdings, als Präsident Putin in seiner Rede vom 30. September 2022 sogenannte westliche Werte als „unverhohlenen Satanismus“ charakterisierte.
Putins Kreml hat sich selbst zum Beschützer „traditioneller Werte“ vor den verkommenen fremden Werten erklärt, die der Westen angeblich in der Ukraine vorantreibe und Russland aufzwingen wolle. Dieses Narrativ tauchte erstmals im April 2022 auf, nachdem die Gräueltaten Russlands in Butscha aufgedeckt worden waren. Als einer der stärksten Verfechter des Konzepts der Russischen Welt (Russkiy mir) predigte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, dass Russland in der Ukraine für die „wahre Unabhängigkeit“ der „russischen Welt“ kämpfe, die er als letzte Bastion gegen den unmoralischen, verdorbenen Westen sieht. Diese Bemühungen, so sagt er, hätten „Gottes Wahrheit“ auf ihrer Seite und hielten den „Antichristen“ vor der „feindlichen“ Weltmacht zurück, die sich gegen Russland stelle. Kyrill ist der Ansicht, die Ukraine gehöre zum „kanonischen Territorium“ der russisch-orthodoxen Kirche, obwohl die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen in der Ukraine angibt, der unabhängigen autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine anzugehören oder „einfach orthodox“ zu sein. Kyrill stellt das Vorgehen des Kreml als einen heiligen „Bruderkrieg“ dar, den Russland gegen diejenigen führen müsse, die die Ukraine, die der „heiligen vereinigten Rus angehört“, zu einem „russlandfeindlichen“ Staat machen wollten. Kyrills Botschaft wurde über das Desinformations- und Propaganda-Ökosystem des Kreml weiterverbreitet. In den staatlichen Propagandamedien begannen bekannte Persönlichkeiten Russland als „Verkörperung der Kräfte des Guten“ darzustellen und sprachen von einem von einem „metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse“ und einem „heiligen Krieg“, den Russland gewinnen müsse. Vom Kreml beauftragte Desinformations-Websites gingen sogar noch weiter und bezeichneten Ukrainer als „Satanisten“, darunter die vom FSB gesteuerte News Front und der von den Vereinigten Staaten sanktionierte Fernsehsender Tsargrad, der zum schädlichen Netzwerk des russischen Oligarchen Konstantin Malofejew gehört, der von den Vereinigten Staaten angeklagt wurde. So fügte der Kreml „heiliger Kreuzzug“ seiner Liste falscher Rechtfertigungen für den brutalen Krieg und die Gräueltaten gegen das ukrainische Volk hinzu.
Das Narrativ wurde wieder aufgegriffen, als Russland im Sommer und Herbst schwere Rückschläge auf dem Schlachtfeld erlitt. Als die russische Regierung im Juli 2022 einen Gesetzentwurf vorlegte, der Informationen über „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“ als „Propaganda“ verbot und mit Putins Unterschrift im Dezember 2022 Gesetzeskraft erlangte, stellten prominente Kremlvertreterinnen und -vertreter den Ausschluss Russlands aus dem Europarat im März 2022 als Scheitern der Bemühungen dar, „Russland ausländische Werte und die gleichgeschlechtliche Ehe aufzuzwingen“, obwohl der Ausschluss auf Russlands Aggression gegen die Ukraine zurückging. Kommandeure aus der russischen, Republik Tschetschenien, die von Ramsan Kadyrow regiert wird, der ebenfalls US-Sanktionen unterliegt, verkündeten wiederholt, dass Russland in der Ukraine einen heiligen Krieg gegen die „Armee des Antichristen“ und „satanische LGBT-Werte“ führe. In einer Rede im September griff Präsident Putin den Westen und seine „Diktatur der westlichen Eliten“ wegen „radikaler Verleugnung moralischer Normen, Religion und Familie“ an und bezeichnete dies als „reinen Satanismus“. Putin deutete an, dass westliche Länder „monströse Experimente“ an Kindern durchführten. Russlands Gesetze und die Rhetorik des Kreml bringen LGBTQI+ Personen zu Unrecht mit Pädophilie in Verbindung.
Und Putin ist mit seinen extremen Äußerungen nicht allein. Der exzentrische Schauspieler, ehemalige Priester und glühende Putin-Anhänger Iwan Ochlobystin hatte die Signale aus dem Kreml vernommen und auf einer Kundgebung am 1. Oktober auf dem Roten Platz zur Unterstützung der versuchten Annexion von vier ukrainischen Regionen den „heiligen Krieg“ ausgerufen. Offenbar zum Erstaunen einiger im Publikum rief Ochlobystin „Goyda!“ (Гойда), ein alter russischer Kriegsruf, mit dem Iwan der Schreckliche angeblich seine Spezialeinheiten zu sich rief. Ochlobystin fuhr mit seiner dramatischen Warnung fort: „Fürchte dich, alte Welt! Der wahren Schönheit, des wahren Glaubens, der wahren Weisheit beraubt! Geführt von Verrückten, Perversen, Satanisten! Hab Angst, wir kommen!“ Ende Oktober verbreiteten weitere Kreml-Beamte Äußerungen, in denen sie zur „Entsatanisierung“ der Ukraine aufriefen und behaupteten, der Westen fördere satanische Kulte, um das Denken der Ukrainerinnen und Ukrainer so neu zu programmieren, dass sie sich gegen die traditionellen Werte wenden, für die Russland stünde. Der tschetschenische Machthaber Kadyrow forderte die Männer Russlands auf, zu den Waffen zu greifen, den „Dschihad“ gegen die ukrainischen Satanisten zu führen, und ukrainische Städte „vom Angesicht der Erde zu tilgen“. Glaubwürdigen Berichten zufolge haben Kadyrows tschetschenische Kämpfer in der Ukraine Gräueltaten begangen.
Dieses Schaubild zeigt den Umfang der Inhalte und Interaktionen im Zusammenhang mit dem Narrativ „Entsatanisierung“ auf Telegram, gemessen an der Anzahl der Nachrichten pro Tag. Wichtige Momente des Kriegsverlaufs sind hier deutlich zu erkennen, darunter der Beginn der groß angelegten Invasion am 24. Februar, Kriegsrückschläge Russlands sowie die Gegenoffensiven der Ukraine.
Als die ukrainischen Streitkräfte dank der Offensiven in Charkiw und Cherson Aufwind bekamen, wurde das Narrativ der „Entsatanisierung“ verstärkt wieder aufgegriffen. Während Russland auf dem Schlachtfeld und in der globalen öffentlichen Meinung weiterhin Niederlagen einstecken muss, sucht der Kreml nach einem überzeugenden Narrativ, wobei jedes noch absurder ist als das vorherige. Das Bemühen des Kreml, die Ukrainerinnen und Ukrainer als „Satanisten“ zu verteufeln, ist lediglich ein schlecht getarnter Versuch, der russischen Bevölkerung gegenüber eine Erklärung für die Verluste zu finden und weitere Verluste im Voraus zu rechtfertigen. Das oberflächlich betrachtet irrelevante Narrativ der „Entsatanisierung“ entmenschlicht die Bevölkerung der Ukraine und versucht, Verderbtheit und grausame Gräueltaten an ihnen zu rechtfertigen.
Falsches Narrativ Nr. 5: „Verteidigung der Souveränität Russlands“ gegen den Westen
Als im September 2022 Putins Pläne für Scheinreferenden und die militärische Mobilisierung mit der ukrainischen Gegenoffensive kollidierten, machte der Kreml aus dem Angriffskrieg rhetorisch einen „zur Verteidigung der Souveränität Russlands“ notwendigen Krieg. Nur ein Jahr, nachdem der Kreml seine „Sicherheitsforderungen“ vorstellte, um angeblich einen Konflikt zu vermeiden, schließt sich der Kreis und er kehrt zu seinem ursprünglichen Desinformationsnarrativ zurück, wonach der Westen der eigentliche Aggressor sei und Russland durch einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine vernichten wolle. Land an die Ukraine zu verlieren – an einen UN-Mitgliedstaat, den Putin als „kein richtiges Land“ abtat – ist unvorstellbar.
Als die ukrainischen Streitkräfte die Region Charkiw befreiten, wurde Russlands Kampf zur Verteidigung seiner Souveränität gegen den Westen das zentrale Narrativ des Kreml. Am 21. September 2022 behauptete Putin wahrheitswidrig, die Teilmobilisierung und die Scheinreferenden seien notwendig, um „die Souveränität, Sicherheit und territoriale Integrität Russlands zu schützen“. Verteidigungsminister Schoigu und der Vorsitzende der russischen Staatsduma Wolodin wiederholten die Darstellung, die Mobilisierung sei notwendig, weil Russland sowohl gegen die Ukraine als auch gegen die NATO und den „kollektiven Westen“ kämpfe. Als die Ukraine die Stadt Cherson von der brutalen russischen Besatzung befreite und Tausende von Männern aus Russland flohen, um der Mobilisierung zu entgehen, machte Putin erneut die Ukraine und den Westen für den Krieg verantwortlich. In seiner Rede vom 15. November behauptete Putin zu Unrecht, der Krieg sei das Ergebnis westlicher Bemühungen, die Ukraine zu destabilisieren, beschuldigte den Westen, Russland schwächen zu wollen, und stellte den Krieg als Sabotageabwehr dar.
In seiner Silvesteransprache an die Nation 2022 stellte Präsident Putin Russlands „besondere Militäroperation“ als existenziellen Kampf zur Wahrung der „Souveränität“ und „wahren Unabhängigkeit“ Russlands dar. Flankiert von angeblichen Angehörigen der russischen Streitkräfte, die zum Teil möglicherweise Schauspieler waren, recycelte er in Abweichung von seiner traditionellen Kreml-Kulisse Desinformationsnarrative über die Heuchelei des Westens. Putin behauptete, „westliche Eliten“ täten so, als wollten sie zur Beilegung des „Konflikts im Donbass“ beitragen, und „ermutigten Neonazis, weiter terroristische Aktionen gegen friedliche Zivilisten“ durchzuführen. Dann beschuldigte er den Westen, „über den Frieden zu lügen, gleichzeitig einen Angriff vorzubereiten“ und „die Ukraine zynisch als Mittel zur Schwächung und Spaltung Russlands zu benutzen“. Außerdem behauptete er, der Westen habe einen „regelrechten Sanktionskrieg“ entfesselt, aber Russland habe sich durchgesetzt. Schließlich sagte er, dieser „Kampf“ diene als Vorbild für andere Länder in ihrem „Streben nach einer gerechten multipolaren Weltordnung“. Neben den bekannten Motiven appellierte Putin an den Patriotismus und erklärte, die Verteidigung des Vaterlandes sei eine „heilige Pflicht“ und Russland habe die „moralische und historische Wahrheit“ auf seiner Seite.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow bekräftigte diese Darstellung am 18. Januar 2023, als er die Ergebnisse der russischen Diplomatie im Jahr 2022 auswertete. Er sagte: „Wie Napoleon, der fast ganz Europa gegen das Russische Kaiserreich mobilisierte, und Hitler, der die Mehrheit der europäischen Länder besetzte und gegen die Sowjetunion aufbrachte, haben die Vereinigten Staaten eine Koalition aus fast allen europäischen Mitgliedsstaaten der NATO und der EU gebildet und nutzen die Ukraine, um einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu führen, mit dem alten Ziel, die ‚russische Frage‘ endgültig zu lösen, wie Hitler, der eine Endlösung der ‚Judenfrage‘ anstrebte.” Ende Januar 2023 wiederholte Lawrow auf Medienanfragen nach der oben erwähnten Pressekonferenz diese Darstellung mit den Worten: „Uns ist seit Langem klar, dass die bloße Existenz Russlands als eines der grundlegenden, tragenden Elemente des riesigen eurasischen Raumes für unsere Gegner ein Problem darstellt”.
In einer besonders weit hergeholten Version dieses Narrativs stellte der Kreml die internationale Partnerschaft und Zusammenarbeit mit dem Ziel der Verringerung der Bedrohung durch biologischen Waffen in der Ukraine als eine Bedrohung für die Souveränität Russlands und die Russen als Ethnie dar. Die Desinformationsmaschinerie des Kreml hat in multilateralen Organisationen einen groß angelegten Angriff auf die Wahrheit gestartet und versucht, friedliche Forschung in der Ukraine als Experimente mit biologischen Waffen darzustellen, im Rahmen derer Zugvögel und kranke Fledermäuse trainiert werden, um Russland zu bedrohen. Im Juli 2022 trieben die russischen Staatsmedien und ihre Vertreterinnen und Vertreter die Desinformation „von in den Vereinigten Staaten betriebenen Biolaboren“ ins Reich der Science-Fiction, als sie russische Beamtinnen und Beamte mit der Behauptung zitierten, an ukrainischen Soldatinnen und Soldaten seien Experimente durchgeführt worden, die „die letzten Spuren des menschlichen Bewusstseins neutralisiert und sie in die grausamsten und tödlichsten Monster“ und „in von den Vereinigten Staaten kontrollierte grausame Maschinen“ verwandelt hätten. Dies folgte auf Anschuldigungen des russischen Verteidigungsministeriums vom März 2022, die Vereinigten Staaten würden in der Ukraine „ethnische Biowaffen“ entwickeln, die sich gegen ethnische Slawen, wie beispielsweise Russen, richteten. Mit diesen haarsträubenden Behauptungen sollen Verschwörungstheorien geschürt und Russlands Krieg gegen die Ukraine als existenzieller „Kampf um die Souveränität“ gegen den Westen dargestellt und gleichzeitig von der schlechten Leistung der russischen Streitkräfte abgelenkt werden.
In einem weiteren absurden Teil dieses Desinformationsnarrativs wird behauptet, der Westen unterziehe die Ukrainerinnen und Ukrainer einer Gehirnwäsche. In einem Interview vom 30. Januar 2023 beschuldigte der stellvertretende russische Außenminister Rjabkow die NATO, die Nachbarländer Russlands absichtlich mit „russophoben Horrorgeschichten“ zu „zombifizieren“ und Aktionen durchzuführen, „die darauf abzielen, unseren historischen und kulturellen Code zu zerstören“. Die Kreml-Propagandistin Margarita Simonjan verbreitete dieses Narrativ weiter, indem sie sagte, dass es den Russinnen und Russen zwar schwerfiel, gegen die ukrainischen „Brüder“ zu kämpfen, „sie [der Westen] uns aber die Bitterkeit genommen haben, gegen Ukrainerinnen und Ukrainer oder sogar für sie zu kämpfen. Jetzt wird deutlich, dass es vielleicht unvermeidlich war, gegen den Westen zu kämpfen.“
Zur Rechtfertigung der russischen Invasion im Jahr 2022 behauptete der Kreml wahrheitswidrig, der Westen habe Verhandlungen verweigert, obwohl Moskau die Verhandlungen abgebrochen hatte. Um die Fortsetzung des Krieges zu rechtfertigen, behauptet der Kreml zu Unrecht, der Westen wolle Russland zerstückeln und die russische Kultur auslöschen. Damit die russische Bevölkerung die Lüge des rechtmäßigen Angriffs auf ihre Nachbarinnen und Nachbarn akzeptiert, die viele Russinnen und Russen als „Brudervolk“ betrachten, behauptet der Kreml, der Westen habe die Ukrainerinnen und Ukrainer zu Zombies gemacht. In dieser verzerrten Version der Realität kann Russland argumentieren, es kämpfe nicht gegen ukrainische „Brüder“, sondern gegen „Zombie-“, „Neonazi-“ und „Satanisten-Ukrainer“. Um Russlands Verluste erträglich zu machen, gibt der Kreml vor, er befände sich nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern verteidige ehrenwerterweise die Souveränität der Ukraine gegen den Einfall des Westens.
Schlussbemerkung: „Unser historisches Land“
Der Mut und die Widerstandskraft der ukrainischen Bevölkerung, ihr unbedingter Wille, die Unabhängigkeit und Demokratie ihres Landes zu verteidigen, die Einigkeit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten und Partner bei der Unterstützung der Selbstverteidigung der Ukraine und die weltweite Verurteilung der russischen Aggression haben den Kreml dazu gebracht, ständig von einem Desinformationsnarrativ zum nächsten zu wechseln, um seinen Krieg gegenüber der russischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft zu rechtfertigen.
Die Lügen Russlands ändern nichts an der Wahrheit. Der Kreml hat diesen Krieg begonnen und der Kreml kann diesen Krieg beenden.
Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat und Mitglied der Vereinten Nationen. Sie hat das souveräne Recht, Staatsgebiet zu verteidigen und über ihre Außenpolitik zu bestimmen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann 2014, als die russischen Streitkräfte die ukrainische Halbinsel Krim besetzten und dort Stellvertreter einsetzten, finanzierten und ausbildeten, um einen Konflikt in der ostukrainischen Region Donbass auszulösen und aufrechtzuerhalten. Die demokratische Ukraine wird nicht von Nazis oder Satanisten überrannt – der Kreml hat diese Mythen kreiert, um die eigene Bevölkerung aufzuwiegeln. Ukrainische Bürgerinnen und Bürger aller Ethnien haben bei einer demokratischen Wahl einen jüdischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, gewählt, und die internationale Gemeinschaft hat die Rechtmäßigkeit seiner Regierung anerkannt. In den Monaten vor der groß angelegten russischen Invasion suchten die Vereinigten Staaten und andere Länder gemeinsam mit der Ukraine auf diplomatischem Wege nach Möglichkeiten, die von Russland vorgebrachten Sicherheitsbedenken auszuräumen, ohne die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu gefährden. Russland entschied sich stattdessen für den Krieg. Im Februar 2022 begann Russland seine groß angelegte Invasion, die einen eklatanten Verstoß gegen die Grundsätze der UN-Charta darstellte, wonach die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten gewahrt und auf die Anwendung von Gewalt verzichtet werden muss. Russland hat Teile der Provinzen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson brutal erobert und besetzt, dann Scheinreferenden abgehalten und angegeben, die Provinzen zu annektieren, so wie es auch die Krim annektiert haben will, um die räuberischen Gebietsansprüche des Kreml umzusetzen.
Die rhetorischen Verrenkungen Russlands dienen nur einem Ziel: Der Verschleierung der offensichtlichen Bestrebungen Russlands, den souveränen, unabhängigen Staat Ukraine von der Landkarte zu tilgen und sein Volk zu unterjochen. Unter den Lügen verbergen sich untrügliche Zeichen, die auf die wahren neoimperialen Ambitionen des Kremls hindeuten. Putins Botschaft vom Juli 2021, in der er Russen und Ukrainer zu „einem Volk“ erklärte, und seine Kriegsaufrufe vom Februar 2022, die von Geschichtsrevisionismus und Desinformation geprägt waren und die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine in Abrede stellten, gaben der Welt einen Einblick in seine Ziele. Dieselben Sätze werden häufig von den Gesichtern der Kreml-Propaganda wiederholt, wie beispielsweise von Margarita Simonjan, die kürzlich die fiktive Behauptung wiederholte, die Ukraine sei von Russland aufgebaut worden und verdanke ihre Macht den Geschenken Russlands. Putins Vision, die imperialen Expansionsbestrebungen von Peter dem Großen zu verwirklichen und „verlorene Gebiete zurückzuholen“, und die unverblümten Kommentare von Kreml-Beamten offenbaren ihre tatsächlichen Absichten. Offizielle Vertreterinnen und Vertreter des Kreml deuteten an, dass Moskau auch wegen der sogenannten „Russophobie“ und dem nicht existierenden „Völkermord an Russinnen und Russen“ an anderen Orten als der Ukraine Vergeltung üben könnte, die es als seine historischen Gebiete betrachtet. Kreml-Kenner haben bereits spekuliert, dass Russland Kasachstan, Moldawien und andere Länder, die angeblich „Russophobie“ schüren, „entnazifizieren“ müsse. In einer Rede im Januar 2023 ließ Putin wenig Zweifel an seiner Zukunftsvision aufkommen: „Das Ziel besteht, wie ich schon oft gesagt habe, in erster Linie darin, die Menschen und Russland selbst vor den Bedrohungen zu schützen, die sie in unseren eigenen historischen Gebieten zu schaffen versuchen. Wir dürfen das nicht zulassen.“
Unabhängig davon, welches Narrativ der Kreml in seinem verlustreichen Desinformationsroulette zu einem gegebenen Zeitpunkt einsetzt, bleibt die Ukraine ein souveräner, unabhängiger Staat, der von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird. Die tapfere ukrainische Bevölkerung wird ihr Land und ihre Demokratie unbeirrt verteidigen, und die Vereinigten Staaten werden der Ukraine so lange wie nötig zur Seite stehen.
Originaltext: Disinformation Roulette: The Kremlin’s Year of Lies to Justify an Unjustifiable War