Erklärung des US-Außenministers
Am 24. Juni 2021 unterzeichneten US-Außenminister Blinken und Bundesaußenminister Maas eine Vereinbarung zur Etablierung eines gemeinsamen Holocaust-Dialogs. Außenminister Blinken sprach dazu am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Wir haben das vom US-Außenministerium am 24. Juni veröffentliche Statement des US-Außenministers übersetzt.
Guten Morgen. Außenminister Maas, Heiko, vielen Dank, dass wir diesen historischen Dialog in gemeinsamer Partnerschaft aufnehmen.
Diese Woche vor 80 Jahren marschierte die deutsche Wehrmacht in die von der Sowjetunion besetzte Stadt Bialystok in Polen ein. Juden wurden aus ihren Häuser gezerrt, geschlagen, viele wurden auf der Stelle erschossen. Einige Soldaten zwangen ältere jüdische Männer zum Tanzen, und wenn ihnen ihr Tanz nicht gefiel, zündeten sie ihre Bärte an.
Anschließend trieben die Nazis über 700 Jüdinnen und Juden in die Synagoge von Bialystok und setzten diese in Brand.
Was in Bialystok geschah war kein Einzelfall. Diese Grausamkeiten hatten System.
Mit der Aufnahme des deutsch-amerikanischen Holocaust-Dialoges tragen wir dazu bei, dafür zu sorgen, dass heutige und zukünftige Generationen vom Holocaust erfahren und daraus lernen.
Gemeinsam würdigen wir jene, die getötet wurden. Sie lassen sich nicht auf Zahlen reduzieren, auch wenn viele von uns eine Zahl im Kopf haben. Aber diese Menschen waren mehr als nur Nummern. Sie waren nicht, wie ihre Mörder sie sahen – anonym, unmenschlich. Sie waren Familienmitglieder, sie waren Freunde, Mütter, Väter, Töchter, Schwestern, Angehörige, sie waren menschliche Wesen.
Wir würdigen die Überlebenden, die ihre Geschichten mit gewaltigem Mut und gewaltiger Entschlossenheit mit uns teilen, so wie jene, die heute hier sind: Margot Friedländer, Franz Michalski, Peter Johann Gardosch. Sie ehren uns mit Ihrer Anwesenheit, mit dem Zeugnis, das Sie ablegen, Sie ehren uns mit Ihren Erinnerungen.
Wir erforschen die Vergangenheit, um den Holocaust als mehr zu begreifen als den letzten Akt der Ausrottung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Slawen, Menschen mit Behinderung, LGBTQ-Menschen und vielen anderen. Er war der Höhepunkt zahlloser einzelner Schritte, deren Ziel es war, Menschen zu diffamieren und ihnen das Menschsein abzusprechen.
Wir haben zum Beispiel erfahren, dass Jüdinnen und Juden bereits 1933 aus dem Beamtentum entfernt, jüdische Geschäfte boykottiert und Bücher von jüdischen Autorinnen und Autoren verboten und nicht weit von hier auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt wurden.
Wie die Wege durch diese Gedenkstätte war auch die Shoah kein steiler Absturz, sondern ein schrittweiser Abstieg in die Dunkelheit. Wie der Überlebende Primo Levi schrieb: „Unterzugehen ist ganz leicht…wie ein Fluss, der sich hinunter ins Meer ergießt.“
Das Wissen darum ist heute besonders wichtig, da die Überlebenden von uns gehen und jene, die den Holocaust leugnen, immer lauter werden und perfide neue Wege finden, ihre Lügen zu verbreiten.
Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie haben sich antisemitische Inhalte im Internet während der Pandemie in Frankreich versiebenfacht und in Deutschland verdreizehnfacht.
Vor einigen Monaten wurde ein Hakenkreuz in die Tür einer Synagoge in den Vereinigten Staaten geritzt und Museen, die sich dem Holocaust widmen, wurden verschandelt.
Heute wie damals gehen das Leugnen des Holocaust und der Antisemitismus oft Hand in Hand mit Homophobie, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und anderem Hass. Auch versammeln sich dahinter all jene, die unsere Demokratien zum Einsturz bringen wollen, und wir haben sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten gesehen, dass dies oft ein Vorbote von Gewalt ist.
Deshalb müssen wir innovative Wege gehen, um die Geschichte des Holocaust lebendig zu halten – nicht nur, um die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, um uns in der Gegenwart zu leiten und unsere Zukunft zu gestalten.
Gemeinsam mit dem United States Holocaust Memorial Museum und der Stiftung Denkmal für die Ermordeten Juden Europas werden unsere Regierungen die Aufklärung über den Holocaust stärken. Wir werden uns der Leugnung und Verfälschung des Holocaust entgegenstellen. Wir werden dafür sorgen, dass Beamte, Lehrerinnen und Lehrer und junge Menschen wie die heute hier anwesenden jungen Führungspersönlichkeiten diese Themen umfassend begreifen und eine Verantwortung dafür spüren, Gräueltaten zu unterbinden, wo immer sie begangen werden.
Dabei werden wir auf Deutschlands jahrzehntelanger ernsthafter, bemerkenswerter Arbeit bei der Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels seiner Geschichte aufbauen, um alle Opfer des Holocaust zu würdigen, Antisemitismus zu bekämpfen und hier und weltweit eine Kultur der Erinnerung zu fördern, auch durch eine Führungsrolle im Rahmen der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken. Diese Arbeit ist inzwischen ein zentraler Bestandteil unserer transatlantischen Beziehungen und stärkt unsere Demokratien.
Denn ebenso wie Ablehnung erst nach und nach entsteht, müssen auch Prinzipien und Gebräuche, die das Versprechen des „Nie wieder“ einlösen können, Schritt für Schritt etabliert werden, wie bei dem Marsch aus den Tiefen dieses Mahnmals nach oben heraus.
Mein verstorbener Stiefvater Samuel Pisar war 12 Jahre alt, als die Nazis in seine Heimatstadt Bialystok in Polen einmarschierten. Eine Woche später stellten sie Hunderte jüdischer Männer und Jungen in einer Reihe auf und mähten sie nieder. Darunter waren auch seine Cousins Isaac, Grisha und Frol.
Tage später wurden er und seine Familie gezwungen, in das nun eingemauerte Ghetto von Bialystok zu ziehen. Zuerst verschwand sein Vater David, dann sein Onkel, dann seine Großmutter; dann wurde er von seiner Mutter Helaina und seiner kleinen Schwester Freida getrennt und nach Treblinka geschickt, später nach Majdanek, Auschwitz und Dachau.
Als er 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurde, war er der einzige Überlebende seiner Familie.
Im Holocaust lagen Ghettos wie das in Bialystok mitten im Herzen der Städte, genau wie dieses Denkmal hier. Das bedeutet, dass außer den Nazis auch alle anderen, die in diesen Städten wohnten, wussten, dass dort Juden lebten. Sie wussten, dass dort Tag für Tag Züge voller Menschen abfuhren. Das Böse war zu sehen, aber die meisten entschieden sich, wegzusehen und nichts zu tun.
Dieser Dialog wird uns helfen, uns darauf zu besinnen, was wir alles verlieren können, aber er wird uns auch helfen zu erkennen, was wir alles bewahren können, wenn wir uns entscheiden, uns zu erheben anstatt nur zuzusehen. Danke sehr.