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September 29, 2022

Rede von US-Botschafterin Gutmann bei der Premiere der Dokumentation "The U.S. and the Holocaust"

Botschafterin Gutmann bei der Ken Burns PremiereAm 28. September 2022 feierte der Dokumentarfilm _The U.S. and the Holocaust_, bei dem unter anderem Ken Burns Regie führte, im Berliner Kino International Europapremiere. US-Botschafterin Amy Gutmann hielt bei der Veranstaltung, bei der auch Ausschnitte des Films gezeigt wurden, folgende Rede. 

Es gilt das gesprochene Wort.

Vielen Dank, Cherrie. Guten Abend zusammen! Herzlich willkommen im historischen Kino International im Herzen Berlins! Es ist mir eine große Ehre, Lynn Novick und Sarah Botstein zur Europapremiere ihres bahnbrechenden Films The U.S. and the Holocaust begrüßen zu dürfen, bei dem sie gemeinsam mit Ken Burns Regie führten. Die Amerikanische Botschaft in Berlin ist stolz darauf, diese historische Premiere ausrichten zu dürfen. Mein Freund Ken Burns wollte heute Abend eigentlich auch hier sein, wurde aber vor einigen Tagen positiv auf Corona getestet.  Wir alle wünschen ihm eine schnelle Genesung.

Wir fühlen uns sehr geehrt, dass heute Abend namhafte Persönlichkeiten anwesend sind. Es sind zu viele, als dass ich sie alle einzeln nennen könnte. Botschafterin Michèle Taylor ist aus Genf angereist, um das Thema Menschenrechte ins Rampenlicht zu rücken. Ich danke Ihnen!

Außerdem ist heute Abend eine der mutigsten und inspirierendsten Frauen bei uns, die ich kenne. Sie ist quasi unsere Nachbarin: die Autorin, Pädagogin und Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Margot, Sie verfügen über die Weisheit von mehr als einem Jahrhundert. Damit ist Ihre Geschichte eine Geschichte für alle Altersgruppen, die heute Abend noch umfassender erzählt werden wird.

Ich war und bin Lehrerin und Wissenschaftlerin in den Bereichen Demokratie und Bildung, daher freue ich mich besonders, heute mehr als 250 Schüler und Studierende mit ihren Lehrern und Professoren von Schulen und Hochschulen aus ganz Berlin begrüßen zu dürfen. Dieser Film richtet sich vor allem an Sie – unsere Zukunft.

Ken und seine Ko-Regisseurinnen und -Regisseure sind unübertroffen, wenn es darum geht, die amerikanische Geschichte und Kultur für Millionen von Menschen zum Leben zu erwecken. Sei es der Bürgerkrieg, Country-Musik, Baseball, Benjamin Franklin, Jazz oder Jackie Robinson – mit dem sogenannten Burns-Effekt regt der Filmemacher weltweit Millionen von Menschen zum Nachdenken an.

Wir sind heute hier in Berlin zusammengekommen, um Zeuge des Burns-Effekts zu werden, – oder besser gesagt des Burns-Novick-Botstein-Effekts –, der gerade heute von besonderer historischer Bedeutung ist.

Auf der ganzen Welt feiern Jüdinnen und Juden gerade Rosch Haschana, den Beginn unseres Neujahrs. Nächste Woche ist Jom Kippur, der Tag der Versöhnung. Damit das Leben weitergehen kann, beginnen wir jedes Jahr damit, die moralischen Fehler unserer Vergangenheit, kurz gesagt, unsere Sünden, anzuerkennen. Das Eingestehen der eigenen Sünden ist notwendig, bevor es Versöhnung oder Wiedergutmachung geben kann.

Die Geschichte lehrt uns, dass jedes Land zunächst die Sünden Vergangenheit anerkennen muss, bevor es zur Versöhnung, zum „nie wieder“ kommen kann. Deshalb ist der Film, „Die USA und der Holocaust“ richtungsweisend und gerade jetzt von so großer Bedeutung.

Zum ersten Mal in der Geschichte wird Millionen von Menschen jeden Alters, hier in Deutschland, in den Vereinigten Staaten und weltweit, nicht nur all das vor Augen geführt, was die Vereinigten Staaten getan haben, um den Nationalsozialismus zu besiegen, sondern auch das, was mein Land nicht getan hat für Tausende von Juden und andere Opfer des Holocaust, deren Leben andernfalls hätte gerettet werden können, Anne Frank und ihre Familie eingeschlossen. All die anderen bleiben unbekannt.

Dieser Film bedeutet mir sehr viel – wegen der Geschichte meiner Familie und wegen meiner Aufgabe als US-Botschafterin in Deutschland. Die ausgeprägte Erinnerungskultur in Deutschland spielt eine entscheidende Rolle dabei, aus der Vergangenheit zu lernen.  Wir müssen mit offenen Augen auf die Vergangenheit blicken, um voranzukommen und im Sinne einer besseren Zukunft zu handeln.

Wir haben heute kein größeres Ziel, als die Demokratie zu verteidigen. Das tun wir gemeinsam mit Deutschland und unseren anderen Verbündeten, indem wir Antisemitismus und alle Formen von Fanatismus und Menschenrechtsverletzungen bekämpfen und indem wir die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem mutigen Kampf gegen Putins brutale Angriffe auf ihre Freiheit und ihr Leben unterstützen. „Nie wieder“ zu sagen bedeutet, jetzt zu handeln, die Demokratie zu verteidigen und Leben zu retten.

Als Amerikanerinnen und Amerikaner sind wir stolz auf unsere Rolle beim Sieg über den Nationalsozialismus und bei der Befreiung der Konzentrationslager. Aber in vielerlei Hinsicht haben wir es als Nation versäumt, unserer Identität als Land der Möglichkeiten für alle gerecht zu werden.

Die Vereinigten Staaten haben eine große Zahl jüdischer Flüchtlinge aufgenommen, die dort Zuflucht und eine neue Heimat fanden.  Doch von 1933 bis 1943 wurde mehr als einer Million Menschen bewusst die legale Einwanderung verwehrt, während täglich Tausende von Jüdinnen und Juden ermordet wurden.

Einige bekannte amerikanische Regierungsvertreter und -vertreterinnen stellten sich dem entgegen.  Einer von ihnen, US-Finanzminister Henry Morgenthau jr., setzte sich nachdrücklich für die Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Europa ein und spielte zusammen mit US-Präsident Roosevelt sogar eine Schlüsselrolle bei der Gründung des War Refugee Board. Seine Enkelin, Sarah Morgenthau, ist heute hier bei uns. Zehntausende Jüdinnen und Juden wurden gerettet, und weiteren Hunderttausenden wurde Hilfe zuteil.  Erschreckenderweise waren zu diesem Zeitpunkt bereits vier Millionen Jüdinnen und Juden ermordet worden.

Ich möchte alle inständig bitten, sich vor Augen zu führen, wie aktuell und zugleich zeitlos die Botschaft dieses Films ist. Wir sollten wirklich niemals sagen: Das ist Geschichte, und jetzt ist alles anders. Wir erleben heute in Deutschland, den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt zunehmenden Antisemitismus und einen Anstieg antisemitischer Gewalttaten. Antisemitismus geht einher mit dem Hass auf LGBTQ+-Menschen, religiöse Minderheiten, Sinti und Roma, Menschen dunkler Hautfarbe, Menschen mit Behinderungen und Flüchtlinge.

Wo Hass aufflammt, ist Gewalt nie weit. Die frühe Flucht meines Vaters aus Nazi-Deutschland und die Ausrottung von Millionen von Menschen erinnert mich täglich daran, dass die Hölle des Holocaust nicht unvermittelt hereinbrach.

„Nie wieder“ – das hat die Welt versprochen, und es ist die übergeordnete Botschaft dieses großartigen Films. Wir dürfen nie vergessen, vor allem nicht, wenn wir mit Hassverbrechen im eigenen Land konfrontiert sind und angesichts dessen, was derzeit in der Ukraine geschieht. Wenn unsere Kinder und Enkel auf diesen Moment in der Geschichte zurückblicken, werden sie dann sagen, dass wir alles getan haben, um Antisemitismus zu bekämpfen, um alle Formen extremistischer Gewalt in unseren Ländern zu bekämpfen und um die Ukraine zu unterstützen?

Ich möchte Lynn und Sarah noch einmal dafür danken, dass sie nach Berlin gereist sind, um uns ihre möglicherweise lebensrettende Arbeit vorzustellen. Und lassen Sie uns auch allen Menschen danken, die heute in unseren beiden Ländern und weltweit ihr Möglichstes tun, um Geflüchtete aufzunehmen, Leben zu retten und unsere Demokratie zu verteidigen.

Begrüßen wir nun gemeinsam Lynn Novick auf der Bühne.

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