Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstands im Ghetto Bialystok

US-AUSSENPOLITIK
Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstands im Ghetto Bialystok
Videobotschaft von US-Außenminister Antony J. Blinken
16. August 2023
Vielen Dank, dass Sie mich und meine Familie anlässlich dieses besonderen Tags eingeladen haben.
Vor achtzig Jahren wäre ein Treffen wie dieses undenkbar gewesen – unter der Schirmherrschaft des Bürgermeisters von Bialystok, in Anwesenheit des Botschafters der Vereinigten Staaten in Polen, eines ehemaligen polnischen Botschafters in den Vereinigten Staaten und der Ehefrau von Samuel Pisar – meiner Mutter – sowie seiner Kinder und Enkelkinder.
Als am 16. August 1943 Hunderte jüdische Männer und Frauen im Ghetto von Bialystok gegen die Nationalsozialisten aufbegehrten, war an Überleben nicht zu denken. Mit dem Aufstand würden sie, wie einer der Anführer es ausdrückte, darüber bestimmen, wie und nicht ob sie sterben würden.
Nach der Niederschlagung des Aufstands verfrachteten die Nazis die letzten Jüdinnen und Juden aus Bialystok in Züge. Unter ihnen waren mein Stiefvater Sam, damals gerade dreizehn Jahre alt, der nach Majdanek gebracht wurde, seine Mutter, die nach Auschwitz und seine kleine Schwester Freida, die wahrscheinlich nach Theresienstadt gebracht wurde.
Wie sollen wir diesen Aufstand verstehen – achtzig Jahre später? Ich sehe ihn als einen der zahllosen Akte des Widerstands der Jüdinnen und Juden in den Ghettos und NS-Konzentrationslagern in ganz Europa, mit denen sie sich gegen ihre Entmenschlichung wehrten und ihre Würde bekräftigten. Nicht Akte der Sinnlosigkeit, sondern des Mutes.
Akte wie die von Sams Vater David, der jüdische Kinder aus dem Ghetto heraus und Waffen hineinschmuggelte – wofür er schließlich bei der Gestapo denunziert und anschließend gefoltert, getötet und in ein Massengrab geworfen wurde.
Akte wie die Entscheidung von Sams Mutter Helaina am Tag der Deportation: Sie zwang ihren Sohn, trotz der glühenden Hitze lange Hosen zu tragen, damit er mehr wie ein Mann aussah und nicht wie ein Junge, damit die Nazis ihn in ein Zwangsarbeitslager und nicht in ein Todeslager bringen würden. Er sagte oft, dass seine Mutter ihm an diesem Tag zum zweiten Mal das Leben schenkte.
Sam selbst unternahm viele Akte des Widerstands. Er überlebte im Ghetto. Er entkam zweimal, nachdem er in Auschwitz in die Gaskammer geschickt worden war – einmal, indem er sich eine Bürste und einen Eimer nahm und so tat, als sei er zum Reinigen des Fußbodens geschickt worden, und ein weiteres Mal, als er sich im Morgengrauen eines Frühlingstages im Jahr 1945 von einem Todesmarsch der Nazis absetzte und amerikanischen GIs in die Arme lief.
Er leistete sein Leben lang Widerstand, indem er sich ein neues Leben aufbaute, Karriere machte, eine Familie gründete und über das, was er durchgestanden hatte, berichtete, in Bürgerversammlungen und den Hallen der Macht.
Als seine Memoiren in den 1980er-Jahren erstmals auf Polnisch veröffentlicht wurden, brach er zu einer seiner vielen Reisen zurück nach Bialystok auf. Nachdem er dort in einer Sekundarschule gesprochen hatte, folgten ihm die Schülerinnen und Schüler auf die Straße. Sie wollten von ihm wissen, wo das Ghetto gewesen war und was ihre Eltern und Großeltern getan hatten, als die SS-Soldaten Jüdinnen und Juden zum Bahnhof trieben. Sie fragten ihn: „Haben sie Ihnen einen Schluck Wasser angeboten? Haben sie geweint?“
Samuel erzählte seine Geschichte noch einmal, obwohl es fast unerträglich fand, sie sich erneut in Erinnerung zu rufen. Er tat es, weil er die überwältigende Verantwortung verspürte, die Menschen nicht vergessen zu lassen, ein Gefühl, das noch dadurch verstärkt wurde, dass aus seiner unmittelbaren Familie – und Hunderten von Schülerinnen und Schülern in Bialystok – er als einziger überlebt hatte.
Da immer mehr Zeitzeugen von uns gehen, geht die Verantwortung dafür, die Geschichte weiterzuerzählen und uns mit ihr auseinanderzusetzen, auf uns alle über. Ich bin daher der Stadt Bialystok, ihrer politischen Führung und ihren Einwohnerinnen und Einwohnern dankbar, dass sie diesen Tag würdigen und noch mehr tun, um zu gewährleisten, dass nachfolgende Generationen wissen, was hier geschehen ist,
unter anderem dadurch, dass die Geschichte des Holocaust in den Schulen Bialystoks wahrheitsgetreu unterrichtet wird, Überlebende wie Marian Turski und Ben Midler eingeladen werden, ihre Geschichte zu erzählen, und ein Stolperstein mit den Namen seiner ermordeten Familienmitglieder vor dem Haus verlegt wurde, in dem Sam aufwuchs.
Die Vereinigten Staaten werden Ihnen immer in Partnerschaft zur Seite stehen, wenn es darum geht, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren. Wir arbeiten zudem mit dem US-Kongress an der Investition von einer Million US-Dollar in die Konzipierung eines virtuellen Rundgangs durch Auschwitz-Birkenau, damit auch Menschen, die dort nicht hinreisen können, die unvergessliche Wirkung dieses Ortes erleben können.
Und es kann und muss noch sehr viel mehr unternommen werden, um über dieses Kapitel der Menschheitsgeschichte aufzuklären. Denn mein Stiefvater wusste, dass es für „Nie wieder“ keine Garantie gibt. Es war ein Gebot, um es mit seinen Worten zu sagen, „alles in meiner Macht Stehende zu tun im Kampf für den Sieg der Hoffnung über Hass, Zerstörung und Tod – Kräfte, die die Menschheit auch erneut in den Abgrund treiben können, wenn wir uns nicht vorsehen.“
Für Samuel war „Nie wieder“ auch ein Aufruf an uns alle, schwierige Fragen zu stellen, nicht nur bezüglich unserer Vergangenheit, sondern auch bezüglich unserer Gegenwart, nicht nur anderen, sondern auch uns selbst. Welche Akte des Widerstands unternehme ich? Was tue ich im Angesicht von Unmenschlichkeit?
Von allem, was Sam tat, um Widerstand gegen die Nazis zu leisten, war er vermutlich am stolzesten auf den Akt der Liebe: nicht nur selbst zu überleben, sondern eine neue Familie zu gründen und das Leben der Angehörigen dieser neuen Familie mit Hoffnung, Freiheit, Gerechtigkeit zu erfüllen. Das war seine größte Rache an Hitler.
Ich weiß, dass er am heutigen Tag besonders ergriffen davon wäre, in Bialystok nicht nur seine Frau und zwei seiner Kinder, sondern auch drei seiner Enkelkinder – Arielle, David und Jeremiah – zu sehen, die alle ihren Teil dazu beitragen, der fortwährenden Verantwortung gerecht zu werden, die wir gemeinsam übernehmen: das Gebot des „Nie wieder“ in die Tat umzusetzen.
Originaltext: Video Remarks at the Commemoration of the 80th Anniversary of the Bialystok Ghetto Uprising