US-Botschafterin Amy Gutmann vor der American Chamber of Commerce
Am 6. Juli 2023 hielt US-Botschafterin Amy Gutmann eine Rede auf der Jahresmitgliederversammlung der American Chamber of Commerce in Berlin.
Meine Damen und Herren, Simone Menne,
es ist mir eine Ehre, an der 119. Jahresmitgliederversammlung der American Chamber of Commerce in Deutschland teilzunehmen. 119 Jahre. Ich gratuliere – nicht nur zu dieser langen Zeit, sondern auch zu dem, was dies über die Bedeutung von Handel und Investitionen in unserer deutsch-amerikanischen Partnerschaft aussagt.
Vergangene Woche haben wir den 60. Jahrestag von Präsident John F. Kennedys legendärem Besuch in Berlin gefeiert, von dem das Zitat „Ich bin ein Berliner“ stammt. Diese vier berühmten Worte verbreiteten sich über die Zeit und alle Grenzen hinweg und veranschaulichten seinen Appell an alle, das zu tun, „was wir gemeinsam für die Freiheit der Menschen tun können“. Kennedy betonte den Gedanken, dass unsere Freiheit von der Freiheit anderer abhängig ist und unterstrich das Potenzial eines starken und geeinten Europas. „Die Geschichte hat uns zu Freunden gemacht,“ sagte er, „die Wirtschaft hat uns zu Partnern gemacht und die Notwendigkeit hat uns zu Verbündeten gemacht.“
Wenn wir in der Wirtschaft als Partner und als Nationen als Verbündete zusammenarbeiten, ist unser Potenzial für die Schaffung von Freiheit und Wohlstand konkurrenzlos. Diese dynamische Stimmung bewog die Nachkriegsgeneration in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderen europäischen Ländern dazu, ihren eigenen Nationen und der übrigen Welt zu helfen, ein nie dagewesenes Maß an Frieden und Wohlstand zu erreichen.
Die wirtschaftliche Integration und starke Bündnisse zwischen freien Nationen haben sich als unübertroffen erwiesen, wenn es darum geht, Freiheit, Chancen und Wohlstand für die Menschen zu schaffen. Aber unübertroffen bedeutet nicht, dass es keine Herausforderungen gibt. Es gibt sowohl äußere als auch innere Herausforderungen. Autokraten schaffen und nutzen Schwachstellen im Fundament der internationalen Wirtschafts- und Politikordnung.
Demokratische Länder müssen noch immer ihrer Verantwortung in so weitreichenden Feldern wie Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftliches Wohlergehen nachkommen. Die globale Pandemie hat allein in den letzten zehn Jahren gezeigt, wie anfällig unsere Lieferketten sind. Der Klimawandel bedroht das Leben und die Lebensgrundlage von Menschen. Die russische Invasion der Ukraine zeigt deutlich, dass eine zu große Abhängigkeit von Autokratien Risiken birgt.
Diese Zeit verlangt von uns einen neuen Konsens, eine neue Industrie- und Innovationsstrategie für das 21. Jahrhundert. Wir brauchen eine Strategie, die Investitionen in die Quelle unserer eigenen wirtschaftlichen und technologischen Stärke vorsieht, eine Strategie, die diversifizierte und resiliente globale Lieferketten fördert, eine Strategie, die hohe Standards für das Wohlergehen derjenigen setzt, die am stärksten gefährdet sind, eine Strategie, die den Einsatz von Kapital vorsieht, um klima-, gesundheits-, bildungs- und arbeitspolitische Ziele zu erreichen.
Sie haben vielleicht schon davon gehört, dass die Vereinigten Staaten jetzt einen offiziellen Namen für diese Strategie haben: Bidenomics. Das Weiße Haus hat sich diese Bezeichnung nicht ausgedacht, aber Präsident Biden hat sie übernommen. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, dass sich Präsident Obama den Begriff Obamacare auch nicht ausgedacht hat – er hat ihn dann aber auch übernommen.
Um eines ganz deutlich zu sagen: Bei Bidenomics geht es absolut nicht allein um die Vereinigten Staaten. Ganz im Gegenteil, es handelt sich um eine Strategie, die sowohl in den Vereinigten Staaten als auch bei ihren Partnern überall auf der Welt funktioniert. Durch sie wird eine gerechtere, beständigere globale Wirtschaftsordnung geschaffen, von der alle Menschen weltweit profitieren.
Die wirtschaftlichen Prioritäten von Präsident Biden sind klar: sicherzustellen, dass die Vereinigten Staaten und ihre Partner die erforderlichen Fähigkeiten, Technologien und Fertigungskapazitäten aufbauen, die erforderlich sind, um die Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert anzuführen. Angesichts der neuen wirtschaftlichen und geopolitischen Realitäten wird die Schaffung einer sicheren und nachhaltigen Wirtschaft uns allen mehr abverlangen – und zwar auch kurzfristig. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Das, was wir nicht tun, hat ebenso viel Bedeutung wie das, was wir tun.
Die Vereinigten Staaten und Deutschland sind zwei der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Die Erfolgsformel: Man kombiniere deutsche und amerikanische Kreativität, Qualität, Unternehmergeist und Effizienz. Der Umfang unseres bilateralen Handels und unserer bilateralen Investitionen spiegelt unsere gemeinsamen Werte und unsere gemeinsame Kultur wider, und das geht weit über Zahlen hinaus. Trotzdem möchte ich Ihnen ein paar Zahlen nennen:
Im vergangenen Jahr exportierten die Vereinigten Staaten Waren im Wert von annähernd 75 Milliarden US-Dollar nach Deutschland. Darunter waren Flugzeuge und Fahrzeuge, landwirtschaftliche Produkte, medizinische Geräte und vieles mehr. Die Vereinigten Staaten importierten wiederum Produkte im Wert von etwa 150 Milliarden US-Dollar aus Deutschland und stärkten so mittels qualitativ hochwertiger Maschinen sowie pharmazeutischer und anderer wichtiger Produkte ihre heimische Industrie.
US-Investoren stufen Deutschland nach wie vor hoch ein, wenn es um öffentliche Sicherheit, politische Stabilität, Lebensstandard und Arbeitsproduktivität geht. Viele US-Unternehmen beurteilen ihre wirtschaftliche Situation in Deutschland noch immer als gut, wobei viele CFOs von einer kontinuierlichen Verbesserung ausgehen. Die Vereinigten Staaten stehen ganz oben auf der Liste der ausländischen Direktinvestoren in Deutschland.
Eine der bedeutendsten amerikanischen Investitionen der vergangenen Jahre in Deutschland kommt zweifelsohne von Intel. Das Unternehmen plant mehr als 30 Milliarden Euro in den Bau einer Chipfabrik in Magdeburg zu investieren. Dies ist das größte Investitionsvorhaben eines ausländischen Unternehmens in Deutschland. Die Bundesregierung hat Zusagen über ein Drittel der erforderlichen Summe oder rund 10 Milliarden Euro gemacht und dabei hervorgehoben, dass es sich um eine Investition in die Zukunft handele.
2021 kündigte Apple an, dass München der Standort seines European Silicon Design Center werde. Apple wird Hunderte von Beschäftigten einstellen und ein neues, hochmodernes Gebäude bauen, das sich auf Konnektivität und drahtlose Technologien konzentriert. Im Zuge der geplanten Expansion des Silicon Design Center kündigte Apple 2023 an, über einen Zeitraum von sechs Jahren eine weitere Milliarde Euro im Zentrum von München investieren zu wollen. Dies ist ebenfalls ganz klar eine Investition in die Zukunft.
Da wir gerade von Investitionen in die Zukunft sprechen: Die größten Wachstumschancen ergeben sich aus dem Aufbau einer sauberen Energiewirtschaft. Die Welt braucht zielgerichtete, pragmatische Investitionsstrategien, die Innovationen fördern, Kosten senken und gute Arbeitsplätze schaffen.
US-Präsident Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben im März in Washington darüber gesprochen, wie wichtig es ist, diese Initiative voranzutreiben. Ihre gemeinsame Erklärung hob hervor, dass im Zentrum der Energiewende couragierte öffentliche Investitionen stehen.
Die Klimakrise ist nicht nur ein nationales oder bilaterales, sondern ein globales Problem. Aber wir können nicht auf die eine globale Lösung warten, die den Weg zur Verringerung der Emissionen ebnet. Die rechtzeitige Verringerung der Emissionen ist eine Sache der Mathematik und der Werte. Alle großen Volkswirtschaften, die für 80 Prozent der Emissionen verantwortlich sind, müssen bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen.
Mit dem Gesetz zur Verringerung der Inflation (Inflation Reduction Act – IRA) sind die Vereinigten Staaten auf dem besten Weg, ihr Emissionsreduktionsziel zu erreichen. Vor dem IRA hinkten die Vereinigten Staaten hinterher. Jetzt bringt uns das IRA bei unseren Klimazielen voran und geht gleichzeitig auf die Schwachstellen in den Lieferketten und die Sicherheitsrisiken ein, denen wir durch Einfuhren aus der VR China, Russland und anderen Ländern ausgesetzt sind. Es stellt keine Diskriminierung oder Benachteiligung anderer Länder dar. Dies ist kein Nullsummenspiel.
Das IRA ist im Wesentlichen ein Klimagesetz, das den Klimawandel mit klaren Anreizen für erneuerbare Energien bekämpfen soll. Im Rahmen des IRA werden historische Investition in Klima- und saubere Energielösungen getätigt, die durch eine Kombination aus innovativen Steueranreizen, Zuschussprogrammen und Kreditbürgschaften finanziert werden. Das Gesetz sieht unterschiedliche Subventionen für Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher vor, die saubere Energietechnologien anwenden. Das IRA ist das größte Investitionsvorhaben im Bereich Klima und saubere Energie in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Zudem werden durch das Gesetz die Energiekosten weltweit gesenkt.
Das IRA ist das Herzstück der neuen amerikanischen Industrie- und Innovationsstrategie, geht aber auch mit ähnlichen G7- und transatlantischen Initiativen einher.
Wir arbeiten eng mit Deutschland, der EU und anderen Partnern zusammen, um ein transatlantisches Ökosystem für saubere Energielieferketten zu schaffen. Unser gemeinsames Ziel ist eine stärkere, sauberere industrielle Basis, die auf beiden Seiten des Atlantiks die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Mittelschicht fördert und die Energiekosten weltweit senkt.
Die Vereinigten Staaten und die Europäische Kommission haben Schritte unternommen, um das IRA und den Green Deal der EU so abzustimmen, dass sie sich gegenseitig verstärken.
Die US-EU Arbeitsgruppe zum IRA zielt darauf ab, widerstandsfähigere Lieferketten, eine effizientere Fertigung und mehr Innovation auf beiden Seiten des Atlantiks zu schaffen. Eine Auswirkung wird die Diversifizierung der Lieferketten und Märkte sein, sodass keiner von uns übermäßig von Ländern abhängig ist, die auf dem Markt nicht fair agieren, wie beispielsweise China. Ich kann nicht genug betonen, dass die Vereinigten Staaten keine Entkopplung von China wollen.
Die Vereinigten Staaten streben konstruktive Beziehungen zu China an. Das bekräftigte auch US-Außenminister Blinken letzte Woche nach seiner Rückkehr von Gesprächen mit dem chinesischen Präsidenten Xi. „China hat sowohl die Macht als auch die Absicht, das System, in dem wir leben, zu verändern.“ Er fügte hinzu: „Wir müssen einen Weg der Koexistenz, der friedlichen Koexistenz finden.“
Die friedliche Koexistenz ist die notwendige Grundlage – sie ist nicht das erstrebenswerteste Ziel – einer neuen Phase in diesen Beziehungen. Wir alle haben die Pflicht, die Beziehungen verantwortungsvoll zu gestalten. Wir befinden uns auf mehreren Ebenen in einem Wettbewerb um die Gestaltung einer neuen Ära der Freiheit und des Wohlstands, für unsere eigenen Länder und Staaten in aller Welt. Wir suchen gewiss keine Konfrontation oder einen Konflikt, geschweige denn, dass wir eine solche Situation provozieren würden.
Wir wollen mit China zusammenarbeiten, wo immer wir können. Wir sind bestrebt, unsere gemeinsamen Grundwerte und Strukturen wie die Achtung der nationalen Souveränität, der Menschenrechte und fairer Handelsbedingungen, die jahrzehntelang Frieden und Wohlstand ermöglicht haben, zu bewahren und neu zu beleben. In der Tat haben die Achtung der Menschenrechte, der nationalen Souveränität und fairer Handelsbedingungen unsererseits Chinas bemerkenswerten Aufstieg ermöglicht. Ein gesunder wirtschaftlicher Wettbewerb, von dem beide Seiten profitieren, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der Wettbewerb fair ist. Ein wachsendes China, das sich an internationale Regeln hält, ist gut für die Welt.
Wenn wir eines aus unseren Erfahrungen mit Russland gelernt haben, dann, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Länder ihre Marktposition bei wichtigen Rohstoffen, Technologien oder Produkten als Waffe einsetzen, um unsere Wirtschaft zu beeinträchtigen oder geopolitische wirtschaftliche Erpressung zu betreiben. Wir müssen unsere wirtschaftliche Resilienz in Schlüsselsektoren erhöhen, indem wir auf Diversifizierung und Transparenz setzen. Und wir brauchen mehr Möglichkeiten zur Finanzierung von Infrastruktur und Innovation.
Dafür müssen wir die internationalen Institutionen stärken, die für Frieden und Sicherheit sorgen, die die Rechte des Einzelnen und die Integrität souveräner Staaten schützen und die allen Ländern – auch den Vereinigten Staaten und China – eine friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit ermöglichen.
Deshalb setzen wir zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit, zur Förderung von Innovation und zur Gewährleistung einer fairen, integrativen und nachhaltigen Weltwirtschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte auf die Zusammenarbeit mit zuverlässigen Bündnispartnern wie Deutschland. Wir finden neue Wege, um mit Ländern und Institutionen zusammenzuarbeiten, um bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen, die sich auf das Leben der Menschen auswirken, greifbare Ergebnisse zu erzielen. Das bedeutet, dass wir die neuen Bausteine, die neue variable Geometrie einer Welt nutzen müssen, die uns Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für die Zeit nach dem Kalten Krieg bietet.
Die Privatwirtschaft spielt bei diesem Unterfangen eine unglaublich wichtige Rolle. Unsere bilateralen Handels- und Investitionsbeziehungen sind ein Sinnbild für Demokratie, Freiheit und Fairness. Ich gratuliere Ihnen zu der Arbeit, die Sie zur Stärkung unserer bilateralen Wirtschaftsbeziehungen leisten und ermutige Sie, den Dialog über die kritischen Fragen, die uns und die nächste Generation betreffen, fortzusetzen.
Ich bin überzeugt, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland bei der Bewältigung der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts weiterhin zusammenarbeiten werden, um eine Welt zu schaffen, die unsere gemeinsamen Werte und Bestrebungen widerspiegelt. Unsere Beziehungen werden als Vorbild dienen und zeigen, dass eine harmonische Zusammenarbeit zwischen Nationen nicht nur vorteilhafte, sondern auch transformative Auswirkungen haben kann, und das ruft uns wieder die Frage in Erinnerung, die Präsident Kennedy stellte: „… was können wir gemeinsam für die Freiheit der Menschen tun?“.