Rosentraßenprotest – Gedenkveranstaltung
Anlässlich des 80. Jahrestags des Rosenstraßenprotests hielt US-Botschafterin Dr. Amy Gutman am 6. März 2023 eine Rede bei der Gedenkfeier in der Marienkirche in Berlin, in der sie an den Mut der Frauen erinnerte, die erfolgreich die Freilassung ihrer Ehemänner forderten.
Vor 80 Jahren versammelten sich zahlreiche Frauen vor einem Verwaltungsgebäude in der Rosenstraße. Sie forderten ebenso knapp wie eindringlich: Lasst unsere Ehemänner und Söhne frei.
Organisiert und getragen wurde diese Demonstration von den Ehefrauen und Angehörigen festgenommener jüdischer Männer, die deportiert werden sollten. Das NS-Regime reagierte auf den gewaltfreien, friedlichen Aufstand innerhalb kürzester Zeit mit dem Einsatz von Gewalt.
Diese Frauen – alles Ehefrauen und Mütter – hatten auch im Angesicht dieser Tyrannei keine Angst. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte, dann Tausende von Frauen, die energisch und unumwunden forderten: „Gebt uns unsere Männer wieder!“ Sie weigerten sich, zu gehen oder nachzugeben.
Sieben Tage lang erschallte ihre unmissverständliche Forderung in ganz Berlin und den Schaltzentralen der Macht des Dritten Reiches. Irgendwann konnte die Gestapo sie nicht mehr ignorieren. Wir sind heute hier, um die Frauen aus der Rosenstraße zu feiern, die 1943 durch ihren kollektiven gewaltfreien Protest die Freilassung von 1.800 jüdischen Berlinern erreichten.
80 Jahre später weist das Verhalten der Frauen noch immer all jenen den Weg, die Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt fordern. Wie passend, im Women’s History Month und kurz vor dem Internationalen Frauentag an ihren Mut, ihre Solidarität und ihre Kraft zu erinnern. Aber wir sollten diese Geschichte nicht nur im März erzählen.
Sie kann uns jeden Tag daran erinnern, was es bewirken kann, selbst im Angesicht der unmoralischsten, unmenschlichsten Regime für die Verteidigung grundlegender Menschenrechte und der Menschenwürde einzutreten. Die Tapferkeit, die vor 80 Jahren in der Rosenstraße zu beobachten war, ist mehr als eine Geschichte unvorstellbar mutiger Frauen, die wir weitererzählen. SIE. LEBEN. WEITER. Das Vermächtnis dieser Frauen hallt überall auf der Welt wider und inspiriert uns zu handeln.
Heute erleben wir seinen Widerhall in Iran. Dort erheben unvorstellbar mutige junge Menschen – größtenteils Iranerinnen – ihre Stimme und setzen sich für ihre grundlegendsten Rechte ein. Auf die von Frauen angeführten Demonstrationen überall in Iran wurde mit extremer Gewalt reagiert. Und doch halten die iranischen Frauen und Mädchen und ihre Unterstützer tapfer stand. Wir unterstützen ihren Kampf für grundlegende Freiheiten und fordern mit ihnen ein sofortiges Ende der staatlichen Gewalt und die sichere Freilassung Tausender inhaftierter Bürgerinnen und Bürger. Auch ihre Botschaft ist energisch und unmissverständlich, wie die der Frauen aus der Rosenstraße: Frauen. Leben. Freiheit. Diese jungen iranischen Heldinnen weigern sich genauso wie die Frauen, die vor 80 Jahren hier in Berlin demonstrierten, im Angesicht von Gewalt und Unterdrückung aufzugeben oder sich zu fügen. Sie alle ehren wir heute.
Der Widerhall aus der Rosenstraße ist auch in der Ukraine deutlich zu hören. Die Ukrainerinnen und Ukrainer behaupten sich mit aller Kraft. Meine Bewunderung für den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts Putins ungerechtfertigten und brutalen Kriegs ist nur schwer in Worte zu fassen. Wie in allen Konflikten müssen auch in der Ukraine die Frauen bei der Verteidigung der Demokratie viele Rollen übernehmen und einzigartige Lasten schultern. Ukrainische Frauen sind an der Front im Einsatz, bedienen moderne Waffensysteme und betreiben nachrichtendienstliche Aufklärung. Ukrainische Frauen sind auch zu Hause im Einsatz, kümmern sich um die Kinder und die Alten – manchmal sogar unter russischer Besatzung –, während andere Familienmitglieder an der Kriegsfront kämpfen. Geschätzte drei Millionen ukrainische Frauen wiederum mussten woanders ein vorübergehendes Zuhause finden, um sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Allein hier in Deutschland haben über eine Million Menschen aus der Ukraine – überwiegend Frauen – Schutz und Zuflucht gefunden.
All diese Frauen verkörpern den Mut, für den auch die Rosenstraßenproteste stehen. Wir werden der Ukraine zur Seite stehen, SOLANGE ES NÖTIG IST. Das bedeutet, Hilfslieferungen und materielle Unterstützung für die Ukraine zu leisten und ihre Forderung nach Gerechtigkeit angesichts der russischen Kriegsverbrechen zu stützen.
Seit den ersten Tagen der erneuten illegalen Invasion Russlands der Ukraine verüben russische Soldaten und Söldner scham- und gewissenlos Gräueltaten und Kriegsverbrechen. Sie begehen hinrichtungsartige Morde an ukrainischen Männern, Frauen und Kindern. Sie foltern Zivilistinnen und Zivilisten in Gefangenschaft mit Prügeln, Stromschlägen und Scheinhinrichtungen. Sie setzen Vergewaltigung als Kriegswaffe ein. Russische Behörden haben Hunderttausende ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten nach Russland verschleppen lassen, darunter auch Kinder, die gewaltsam von ihren Eltern getrennt wurden. Das sind keine willkürlichen oder spontanen Aktionen. Das ist Teil der systematischen Angriffe des Kreml auf die ukrainische Zivilbevölkerung, und die Mehrheit der Opfer sind Frauen. Das physische Ausmaß der Grausamkeit Russlands wird einzig durch die moralischen Kosten der russischen Aggression übertroffen.
Unsere gemeinsamen Werte verlangen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um alle für diese Verbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Vizepräsidentin Kamala Harris sagte im vergangenen Monat bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „In einer Welt, in der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungesühnt bleiben, ist kein Land sicher.“
Deshalb ist es an uns allen, „nie wieder“ zu sagen. Und entsprechend zu handeln. Wie Präsident Biden vor zwei Wochen in Warschau sagte, steht die ganze Welt jetzt wieder einmal vor einer historischen Bewährungsprobe. Die Fragen, die sich uns heute stellen, sind so weitreichend wie die Forderungen der Frauen der Rosenstraße. Werden wir handeln oder wegschauen? Werden wir stark oder schwach sein?
Die Frauen in der Rosenstraße haben ganz eindeutig nicht weggesehen. Sie haben gehandelt. Sie waren ganz eindeutig nicht schwach, sondern stark. Ihr Protest war eine der erfolgreichsten gewaltlosen Widerstandsaktionen während des Dritten Reichs – ein erfolgreicher Akt des zivilen Widerstands gegen eine Diktatur, deren Ziel es war, Menschenleben zu zerstören, eine Diktatur, gegen die sich aufzulehnen, wie es diese tapferen Frauen taten, unvorstellbaren Mut erforderte.
Präsident Biden hat die Achtung der Menschenrechte auf der ganzen Welt zu einer seiner höchsten Prioritäten erklärt. Als Botschafterin könnte ich nicht stolzer darauf sein, welchen Stellenwert unser Präsident, unsere Vizepräsidentin und unsere Regierung den Menschenrechten und der Bekämpfung von Hass in all seinen Formen im In- und Ausland beimessen. Deutschland ist uns ein Partner bei all diesen Bestrebungen.
Im Juni 2021 wurde der deutsch-amerikanische Holocaust-Dialog ins Leben gerufen. Dieser Dialog schafft einen grundlegenden Rahmen dafür, aus der Vergangenheit zu lernen und von anderen Rechenschaft zu fordern. Die anhaltende Unterstützung für die Erinnerungskultur in Deutschland ist für das „Nie wieder“ – und für unsere gemeinsame Verteidigung der Demokratie – ebenfalls von entscheidender Bedeutung.
Ich spüre keine Verantwortung stärker als die, das Gedenken an die Opfer des Holocaust am Leben zu erhalten. Wir ehren sie, indem wir Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus und anderen Formen von Hass und Unterdrückung ergreifen. Wir ehren sie, indem wir alle unterstützen, die sich im Angesicht unsäglicher Unterdrückung mit beeindruckendem Mut für ihre Freiheit und ihre Rechte einsetzen. Wenn wir an die Rosenstraßenproteste erinnern, wenn wir an den Holocaust denken, sollten wir wirklich niemals sagen: Das ist Geschichte. Jetzt ist alles anders. Wenn wir nur unseren Blick nicht abwenden von den Geschehnissen in Iran und der Ukraine, erkennen wir, dass es furchtbare Gewaltherrschaft immer noch gibt und dass es so wichtig ist wie eh und je, unsere Demokratie aktiv zu verteidigen.
Präsident Biden sagt oft, dass wir keine passiven Zeugen der Geschichte sind, wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, vielmehr sind wir es, die die Geschichte schreiben.
Es ist einfach, aber wahr: In einer Demokratie ist alles Menschenwürdige möglich. Ohne Demokratie ist nichts wirklich Menschenwürdiges möglich. Die Zukunft gehört den Ländern, die das volle Potenzial ihrer Bevölkerung freisetzen, in denen Mädchen und Frauen gleichberechtigt sind, in denen religiöse und ethnische Minderheiten ein Leben ohne Schikane führen können und in denen Bürgerinnen und Bürger ihre politische Führung ohne Angst vor Repressalien in Frage stellen und kritisieren können. Wir müssen alle gemeinsam für diese Zukunft kämpfen – für eine Zukunft des Friedens und der Gerechtigkeit in unseren Ländern und allen Ländern weltweit.
Diese Erkenntnis und diesen Ansporn ziehe ich aus dem, was die Frauen in der Rosenstraße erreicht haben. Es ist mir eine Ehre, heute mit Ihnen hier zu sein, um gemeinsam an diese Frauen zu erinnern und ihr Vermächtnis am Leben zu erhalten. SIE. LEBEN. WEITER. FRAUEN. LEBEN. FREIHEIT.