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Juni 7, 2023

Russlands strategisches Scheitern und sichere Zukunft der Ukraine Rede von US-Außenminister ANTONY BLINKEN

Russlands strategisches Scheitern und sichere Zukunft der Ukraine Rede von US-Außenminister ANTONY J. BLINKEN
Russlands strategisches Scheitern und sichere Zukunft der Ukraine Rede von US-Außenminister ANTONY J. BLINKEN

 

RATHAUS HELSINKI (FINNLAND) 

2. Juni 2023 

[…] 

Bürgermeister Vartiainen, ich danke Ihnen, dass Sie uns hier in Helsinki und in diesem großartigen Rathaus empfangen. 

Und Mika, ich danke Ihnen, Ihrem gesamten Team und allen Forschenden am finnischen Institut für internationale Angelegenheiten für die Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Diplomatie und die Bereicherung der öffentlichen Debatte. 

Ich freue mich auch, dass mein Freund und Partner, Pekka Haavisto, heute hier bei uns ist. Wir haben in diesem wirklich historischen Jahr sehr eng zusammengearbeitet, und ich bin dankbar für Ihre Anwesenheit. 

Sehr verehrte Gäste: Vor zwei Monaten stand ich zusammen mit unseren Bündnispartnern in Brüssel, als die finnische Flagge zum ersten Mal über dem NATO-Hauptquartier gehisst wurde. Präsident Niinistö erklärte: „Die Ära der militärischen Blockfreiheit in Finnland ist zu Ende gegangen. Es beginnt eine neue Ära.“ 

Vor etwas über einem Jahr wäre dieser Umbruch noch undenkbar gewesen. Vor dem groß angelegten Einmarsch Russlands in der Ukraine befürwortete jeder vierte Finne den Beitritt des Landes zur NATO. Nach dem groß angelegten Einmarsch befürworten nun drei von vier Finnen den Beitritt. 

Es fiel den Menschen in Finnland nicht schwer, sich in die Lage der Ukrainerinnen und Ukrainer zu versetzen. Sie waren im November 1939, als die Sowjetunion in Finnland einmarschierte, in der gleichen Situation. 

Wie Finnland bei der sogenannten „Befreiungsoperation“ der UdSSR wurde auch die Ukraine von Präsident Putin im Rahmen seiner sogenannten „Spezialoperation“ gegen das Land zu Unrecht beschuldigt, die Invasion provoziert zu haben. 

Ebenso wie Russland überzeugt war, Kiew in kurzer Zeit zu erobern, war die Sowjetunion damals zuversichtlich, Helsinki in wenigen Wochen einzunehmen – so zuversichtlich, dass sie Dmitri Schostakowitsch die Musik für die Siegesparade komponieren ließ, noch bevor der Winterkrieg überhaupt begonnen hatte. 

Ähnlich wie Putin in der Ukraine ging Stalin, als es ihm nicht gelang, den erbitterten und entschlossenen Widerstand der Finnen zu überwinden, zu einer Strategie des Terrors über, indem er ganze Dörfer einäscherte und so viele Krankenhäuser aus der Luft bombardierte, dass die Finnen begannen, die Abzeichen des Roten Kreuzes auf den Dächern abzudecken. 

Wie die Millionen ukrainischen Geflüchteten heute wurden auch Hunderttausende Finninnen und Finnen durch die sowjetische Invasion aus ihrer Heimat vertrieben. Unter ihnen befanden sich auch die beiden Kinder Pirkko und Henri, deren Familien aus ihrer Heimat in Karelien evakuiert wurden – die Mutter und der Vater unseres Gastgebers, des Bürgermeisters von Helsinki. 

Für viele Finninnen und Finnen gibt es frappierende Parallelen zwischen 1939 und 2022. Sie sind unverkennbar. Und die finnische Bevölkerung lag nicht falsch. 

Sie hat verstanden, dass die Verletzung der Grundprinzipien der UN-Charta – Souveränität, territoriale Integrität, Unabhängigkeit – durch Russland in der Ukraine auch ihren eigenen Frieden und ihre Sicherheit gefährdet. 

Auch wir haben das verstanden. Deshalb haben wir im Laufe des Jahres 2021, als Russland seine Drohungen gegen Kiew verschärfte und immer mehr Truppen, Panzer und Flugzeuge an der ukrainischen Grenze zusammenzog, alles in unserer Macht Stehende getan, um Moskau zur Deeskalation seiner künstlich hervorgerufenen Krise und zur Lösung der Angelegenheit auf diplomatischem Wege zu veranlassen. 

Präsident Biden hat sich gegenüber Präsident Putin bereiterklärt, über unsere jeweiligen Sicherheitsbelange zu sprechen – und ich habe dies wiederholt bekräftigt, auch persönlich gegenüber Außenminister Lawrow. Wir haben schriftlich Vorschläge zur Entspannung der Lage gemacht. Gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern haben wir jedes Forum genutzt, um einen Krieg zu verhindern, vom NATO-Russland-Rat über die OSZE und die Vereinten Nationen bis hin zu unseren direkten Kommunikationskanälen. 

Dabei haben wir Moskau zwei mögliche Wege aufgezeigt: den Weg der Diplomatie, der zu mehr Sicherheit für die Ukraine, für Russland und für ganz Europa führen könnte, und den Weg der Aggression, der schwerwiegende Folgen für den russischen Staat hätte. 

Präsident Biden hat klargestellt, dass wir bereit sein würden, unabhängig davon, welchen Weg Präsident Putin einschlagen würde. Und dass wir, sollte Russland sich für einen Krieg entscheiden, dreierlei tun würden: die Ukraine unterstützen, Russland hohe Kosten auferlegen und die NATO stärken, und parallel dazu unsere Verbündeten und Partner für diese Ziele gewinnen. 

Als sich die Gewitterwolken zusammenzogen, haben wir die militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe für die Ukraine aufgestockt. Zunächst haben wir im August 2021 und dann erneut im Dezember wir militärische Ausrüstung zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigung bereitgestellt, darunter Javelin-Panzerabwehrraketen und Stinger-Flugabwehrraketen. Und wir haben ein Team des US-Cyberkommandos entsandt, um der Ukraine zu helfen, ihr Stromnetz und andere kritische Infrastrukturen gegen Cyberangriffe zu rüsten. 

Wir haben eine beispiellose Reihe von Sanktionen, Exportkontrollen und anderen wirtschaftlichen Auflagen vorbereitet, damit Russland im Falle einer Großinvasion schwere und unmittelbare Konsequenzen zu spüren bekäme. 

Wir haben Maßnahmen ergriffen, die keinen Zweifel daran ließen, dass wir, ebenso wie unsere Bündnispartner, an unserer Verpflichtung festhalten würden, jeden Zentimeter des NATO-Gebiets zu verteidigen. 

Und wir haben unermüdlich daran gearbeitet, Verbündete und Partner dafür zu gewinnen, der Ukraine zu helfen, sich selbst zu verteidigen und Putin daran zu hindern, seine strategischen Ziele zu erreichen. 

Seit dem ersten Tag seiner Amtszeit konzentriert sich Präsident Biden auf den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Bündnisse und Partnerschaften der Vereinigten Staaten, denn er weiß, dass wir stärker sind, wenn wir mit denjenigen zusammenarbeiten, die unsere Interessen und unsere Werte teilen. 

Im Vorfeld des russischen Einmarsches haben wir die Stärke dieser Partnerschaften unter Beweis gestellt, indem wir unsere Planung und Strategie für eine mögliche russische Invasion mit der NATO, der EU, der G7 und anderen Verbündeten und Partnern aus aller Welt abgestimmt haben. 

In diesen schicksalhaften Wochen im Januar und Februar 2022 wurde klar, dass keine noch so große diplomatische Anstrengung Präsident Putin umstimmen würde. Er würde sich für Krieg entscheiden. 

Und so trat ich am 17. Februar 2022 vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um die Welt zu warnen, dass eine groß angelegte Invasion Russlands in die Ukraine unmittelbar bevorstehe. 

Ich legte dar, welche Schritte Russland unternehmen würde: Putin würde zunächst einen Vorwand erfinden und dann mit Raketen, Panzern, Truppen und Cyberangriffen vorher festgelegte Ziele angreifen, darunter auch Kiew, mit dem Ziel, die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine zu stürzen und die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte zu tilgen. 

Wir hofften – wir hofften, falsch zu liegen. 

Leider lagen wir richtig. Eine Woche nach meiner Warnung an den Sicherheitsrat marschierte Präsident Putin ein. Ukrainerinnen und Ukrainer aus allen Bereichen der Gesellschaft – Soldatinnen und Soldaten, Bürgerinnen und Bürger, Männer und Frauen, junge und alte Menschen – haben ihr Land mutig verteidigt. 

Die Vereinigten Staaten haben schnell, entschlossen und gemeinsam mit Verbündeten und Partnern genau das getan, was sie angekündigt hatten: die Ukraine unterstützt, Russland Kosten auferlegt, die NATO gestärkt – und das alles gemeinsam mit ihren Verbündeten und Partnern. 

Und die Ukraine hat mit unserer kollektiven Unterstützung getan, was sie angekündigt hat: Sie hat ihr Hoheitsgebiet, ihre Unabhängigkeit und ihre Demokratie verteidigt. 

Heute möchte ich diesen und die zahlreichen weiteren Punkte erläutern, die Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem strategischen Fehlschlag gemacht haben, der Russlands Macht, die Interessen des Landes und seinen Einfluss auf Jahre hinaus stark beeinträchtigen wird Außerdem werde ich unsere Vorstellung von einem Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden darlegen. 

Wenn man sich Präsident Putins langfristige strategische Ziele ansieht, gibt es keinen Zweifel: Russland steht heute wesentlich schlechter da als vor seinem groß angelegten Einmarsch in die Ukraine – militärisch, wirtschaftlich und geopolitisch. 

Putin hat Schwäche offenbart, wo er Stärke zeigen wollte. Er hat geeint, wo er zu spalten gedachte. Er hat herbeigeführt, was er zu verhindern versuchte. Das Ergebnis ist kein Zufall. Es ist das unmittelbare Resultat des Mutes und der Solidarität der Ukrainerinnen und Ukrainer und der bewussten, entschlossenen und zügigen Maßnahmen, die wir und unsere Partner zur Unterstützung der Ukraine ergriffen haben. 

Erstens: Präsident Putin versucht seit Jahren, die NATO zu schwächen und zu spalten und behauptete zu Unrecht, sie stelle eine Bedrohung für Russland dar. In der Tat spiegelte das Einsatzkonzept der NATO, bevor Russland 2014 auf der Krim und in der Ostukraine einmarschierte, die gemeinsame Überzeugung wider, dass ein Konflikt in Europa unwahrscheinlich sei. Die Vereinigten Staaten hatten ihre Streitkräfte in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges erheblich reduziert, von 315.000 Soldatinnen und Soldaten im Jahr 1989 auf 61.000 Ende 2013. Die Verteidigungsausgaben vieler europäischer Länder waren jahrelang rückläufig. Das damalige strategische Konzept der NATO bezeichnete Russland als Partner. 

Nach dem Einmarsch Russlands auf der Krim und im Donbass 2014 begann sich das Blatt zu wenden. Die Bündnispartner verpflichteten sich, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, und verlegten als Reaktion auf den russischen Angriff zusätzliche Streitkräfte an die Ostflanke der NATO.  Das Bündnis hat seine Umgestaltung seit dem groß angelegten Einmarsch Russlands beschleunigt, aber nicht um zu drohen oder weil die NATO einen Konflikt anstrebt. Die NATO war schon immer ein Verteidigungsbündnis und wird das immer bleiben. Aber Russlands Aggression, seine Drohungen und sein nukleares Säbelrasseln haben uns gezwungen, unsere Abschreckungs- und Verteidigungshaltung zu stärken. 

Nur wenige Stunden nach der Großinvasion aktivierten wir die defensive Eingreiftruppe der NATO. In den darauffolgenden Wochen entsandten mehrere Bündnispartner, darunter Großbritannien, Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Spanien und Frankreich, umgehend Streitkräfte, Fluggerät und Schiffe zur Stärkung der Ostflanke der NATO. Wir haben die Zahl der Patrouillenschiffe in Nord- und Ostsee und die Zahl der Gefechtsverbände in der Region verdoppelt. Die Vereinigten Staaten haben ihre erste ständige Militärpräsenz in Polen eingerichtet. Und nicht zuletzt hat die NATO Finnland als 31. Bündnispartner aufgenommen, und bald wird bald Schweden als 32. Mitgliedsstaat hinzukommen. 

Im Vorfeld des NATO-Gipfels in Vilnius wird unsere gemeinsame Botschaft deutlich sein: Die NATO-Staaten haben sich zu verstärkter Abschreckung und Verteidigung, zu höheren und sinnvolleren Verteidigungsausgaben und zu einer Vertiefung der Beziehungen zu den indopazifischen Partnern verpflichtet. Die Tür der NATO stand und steht neuen Mitgliedern offen. 

Der Einmarsch Russlands hat auch die Europäische Union veranlasst, mehr zu tun als je zuvor – auch gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und der NATO. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben der Ukraine militärische, wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung in Höhe von über 75 Milliarden US-Dollar bereitgestellt. Darin enthalten sind 18 Milliarden US-Dollar an Verteidigungshilfe, von Luftabwehrsystemen über Leopard-Panzer bis hin zu Munition. In enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien und anderen Partnern hat die EU ihre bisher weitreichendsten Sanktionen verhängt und mehr als die Hälfte des russischen Staatsvermögens eingefroren. Die EU-Länder haben mehr als acht Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Die meisten haben nicht nur Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erhalten, sondern auch eine Arbeits- oder Studienerlaubnis. 

Zweitens: Moskau arbeitet seit Jahrzehnten darauf hin, Europas Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu steigern. Seit Präsident Putins Großinvasion hat Europa eine rasche und entschiedene Abkehr von russischer Energie vollzogen. Berlin hat Nord Stream 2, das die russischen Gaslieferungen nach Deutschland verdoppelt hätte, sofort gestoppt. 

Vor Putins Einmarsch, importierten EU-Länder über 37 Prozent ihres Erdgases aus Russland. Europa hat diesen Anteil in weniger als einem Jahr um mehr als die Hälfte reduziert. 2022 erzeugten die EU-Länder einen Rekordanteil von einem Fünftel ihres Stroms aus Windkraft und Sonnenenergie – mehr Strom als die EU aus Kohle, Gas oder anderen Energiequellen gewann. Die Vereinigten Staaten haben ihrerseits ihre Gaslieferungen an Europa mehr als verdoppelt, und auch unsere asiatischen Verbündeten, Japan und die Republik Korea, haben sich bemüht, die Versorgung Europas auszubauen. 

Durch die von uns und unseren G7-Partnern eingeführte Preisobergrenze für russisches Öl konnte Russlands Energie auf dem Weltmarkt gehalten und gleichzeitig konnten Russlands Einnahmen drastisch gesenkt werden. Ein Jahr nach der Invasion waren Russlands Öleinnahmen um 43 Prozent eingebrochen. Die Steuereinnahmen der russischen Regierung aus Öl und Gas sind um fast zwei Drittel zurückgegangen. Moskau wird die Märkte, die es in Europa verloren hat, nicht zurückgewinnen. 

Drittens: Seit 20 Jahren versucht Präsident Putin, die russischen Streitkräfte zu einer modernen Truppe mit modernsten Waffen, einer straffen Führung und gut ausgebildeten, gut ausgerüsteten Soldatinnen und Soldaten umzubauen. Der Kreml hat schon oft behauptet, über die zweitstärksten Streitkräfte der Welt zu verfügen, und viele glaubten das. Heute halten viele die russischen Streitkräfte für die zweitstärksten in der Ukraine. Ihre Ausrüstung, Technologie, Führung, Truppen, Strategie, Taktik und Moral sind eine Fallstudie des Scheiterns – auch wenn Moskau der Ukraine und ihrer Bevölkerung verheerenden, willkürlichen und grundlosen Schaden zufügt. 

Es wird geschätzt, dass Russland allein in den letzten sechs Monaten mehr als 100.000 Opfer zu beklagen hatte, da Putin Welle um Welle an Russinnen und Russen durch den von ihm geschaffenen Fleischwolf jagt. 

Unterdessen haben die von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und anderen Partnern auf der ganzen Welt verhängten Sanktionen und Exportkontrollen die russische Kriegsmaschinerie und die russischen Rüstungsexporte stark beeinträchtigt und auf Jahre hinaus zurückgeworfen. Russlands weltweite Partner und Kunden im Rüstungsbereich können nicht mehr mit den versprochenen Aufträgen, geschweige denn mit Ersatzteilen rechnen. Und während sie Russlands mangelhafte Leistung auf dem Schlachtfeld beobachten, verlagern sie ihre Geschäfte zunehmend in andere Länder. 

Viertens: Präsident Putin wollte Russland zu einer globalen Wirtschaftsmacht aufbauen. Seine Invasion hat seine langjährigen Versäumnisse bei der Diversifizierung der russischen Wirtschaft, der Stärkung des Humankapitals und der vollständigen Integration des Landes in die Weltwirtschaft deutlich zum Vorschein gebracht. Die russische Wirtschaft ist heute ein Schatten dessen, was sie einmal war, und ein Bruchteil dessen, was sie hätte sein können, wenn Putin statt in Waffen und Krieg in Technologie und Innovation investiert hätte. 

Russlands Devisenreserven haben sich, ebenso wie die Gewinne der Staatsunternehmen, mehr als halbiert. Mehr als 1.700 ausländische Unternehmen haben seit Beginn der Invasion ihre Geschäftstätigkeit in Russland reduziert, ausgesetzt oder beendet. Das bedeutet Zehntausende verlorene Arbeitsplätze, eine massive Abwanderung von ausländischem Fachwissen und Milliarden von Dollar an entgangenen Einnahmen für den Kreml. 

Eine Million Menschen sind aus Russland geflohen, darunter viele führende IT-Fachleute, Unternehmerinnen und Unternehmer, Ingenieurinnen und Ingenieure, Ärztinnen und Ärzte, Professorinnen und Professoren, Journalistinnen und Journalisten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Unzählige Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren, Filmschaffende, Musikerinnen und Musiker haben das Land verlassen, weil sie sich keine Zukunft in einem Land vorstellen können, in dem sie sich nicht frei äußern können. 

Fünftens: Präsident Putin unternimmt erhebliche Anstrengungen, um zu zeigen, dass Russland ein wertvoller Partner für China sein könnte. Am Vorabend des Einmarsches erklärten Peking und Moskau eine „grenzenlose“ Partnerschaft. 18 Monate nach der Invasion wirkt diese wechselseitige Partnerschaft zunehmend einseitig. Putins Angriffskrieg und die Schaffung strategischer Abhängigkeiten von Russland als Waffe haben Regierungen auf der ganzen Welt wachgerüttelt und dazu bewegt, sich um Risikominderung zu bemühen. Gemeinsam unternehmen die Vereinigten Staaten und ihre Partner Schritte, um diese Sicherheitslücken zu schließen, vom Aufbau widerstandsfähigerer kritischer Lieferketten bis hin zur Stärkung unserer gemeinsamen Instrumente zur Bekämpfung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen. 

Der russische Angriffskrieg hält uns also nicht davon ab, die Herausforderungen im indopazifischen Raum zu meistern. Vielmehr hat er unseren Blick dafür geschärft. Und unsere Unterstützung für die Ukraine hat unsere Fähigkeiten, potenziellen Bedrohungen aus China oder anderswo zu begegnen, nicht geschwächt – sie hat sie gestärkt. Unseres Erachtens nimmt Peking sehr wohl zur Kenntnis, dass die Welt weit davon entfernt ist, sich durch eine gewaltsame Verletzung der UN-Charta einschüchtern zu lassen, sondern vielmehr zu ihrer Verteidigung zusammengefunden hat. 

Sechstens: Präsident Putin machte vor dem Krieg regelmäßig Russlands Einfluss in internationalen Organisationen geltend, um die Charta der Vereinten Nationen zu schwächen. Heute ist Russland auf der Weltbühne isolierter als je zuvor. Mindestens 140 Nationen – zwei Drittel der UN-Mitgliedstaaten – haben in der UN-Generalversammlung wiederholt dafür gestimmt, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu bekräftigen, Putins Versuche, ukrainisches Territorium illegal zu annektieren, zurückzuweisen, Russlands Aggression und Gräueltaten zu verurteilen und zu einem Frieden aufzurufen, der mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen vereinbar ist. Regierungen aus West und Ost, Nord und Süd haben dafür gestimmt, Russland aus zahlreichen Institutionen auszuschließen, vom UN-Menschenrechtsrat bis hin zur Internationalen Zivilluftfahrtorganisation. Bei der Vergabe wichtiger Sitze in internationalen Institutionen haben russische Kandidatinnen und Kandidaten eine Wahl nach der anderen verloren, vom geschäftsführenden UNICEF-Vorstand bis zur Leitung der Internationalen Fernmeldeunion der Vereinten Nationen, der ITU. 

Jede Rüge und Niederlage Moskaus ist nicht nur ein Votum gegen den russischen Angriffskrieg, sondern auch ein Votum für die Grundprinzipien der Charta der Vereinten Nationen.  Staaten aus allen Teilen der Welt unterstützen die Bemühungen, Russland für seine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, von der Einrichtung einer UN-Sonderkommission zur Dokumentation der im russischen Krieg begangenen Straftaten und Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Unterstützung der Ermittlungen von Staatsanwaltschaften in der Ukraine und am Internationalen Strafgerichtshof. 

 

Siebtens: Präsident Putin versucht seit Jahren, den Westen und die übrige Welt zu entzweien, indem er behauptet, Russland könne die Interessen der Entwicklungsländer am besten vertreten. Heute hat Präsident Putin durch das offene Bekenntnis zu seinen imperialen Ambitionen und den Einsatz von Nahrungsmitteln und Treibstoff als Waffe den russischen Einfluss auf allen Kontinenten verringert. Putins Bestreben, ein jahrhundertealtes Imperium wiederherzustellen, rief jeder Nation, die unter Kolonialherrschaft und Unterdrückung gelitten hat, ihren eigenen Schmerz wieder in Erinnerung. Dann verschärfte er die wirtschaftliche Not, unter der viele Länder aufgrund der Corona-Pandemie und des Klimawandels ohnehin schon litten, indem er verhinderte, dass ukrainisches Getreide auf den Weltmarkt gelangt, was die Kosten für Lebensmittel und Treibstoff überall in die Höhe trieb.  

Im Gegensatz dazu haben die Vereinigten Staaten und ihre Partner bei einer globalen Herausforderung nach der anderen bewiesen, dass ihre Fokussierung auf die Ukraine sie nicht davon abhält, sich für ein besseres Leben der Menschen auf der ganzen Welt einzusetzen und sich mit den steigenden Kosten der russischen Aggression auseinanderzusetzen.  

Unsere beispiellose Nahrungsmittelsoforthilfe hat Millionen von Menschen vor dem Hungertod bewahrt. Allein im vergangenen Jahr haben die Vereinigten Staaten 13,5 Milliarden US-Dollar an Nahrungsmittelhilfe bereitgestellt. Außerdem finanzieren die Vereinigten Staaten derzeit mehr als die Hälfte des Haushalts des UN-Welternährungsprogramms. Russland steuert weniger als ein Prozent bei.  

Wir haben eine von UN-Generalsekretär Guterres und der Türkei ausgehandelte Vereinbarung zur Durchbrechung der russischen Blockade für ukrainisches Getreide mitgetragen, so dass 29 Millionen Tonnen Lebensmittel aus der Ukraine in alle Welt geliefert werden können. Darunter sind auch acht Millionen Tonnen Weizen, was etwa 16 Milliarden Broten entspräche.  

Gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern mobilisieren wir Hunderte von Milliarden US-Dollar an Finanzmitteln für hochwertige Infrastruktur in den Ländern, in denen sie am dringendsten benötigt wird. Wir planen, diese auf transparente und umweltschonende Weise aufzubauen und dabei lokale Arbeitskräfte und Gemeinschaften zu stärken.  

Wir stärken die globale Gesundheitssicherheit, von der Ausbildung einer halben Million medizinischer Fachkräfte in unserer eigenen Hemisphäre, in Nord- und Südamerika, bis hin zur Unterstützung des Pharmaunternehmens Moderna beim Abschluss einer Vereinbarung mit Kenia zum Bau seiner ersten mRNA-Impfstoffproduktionsanlage in Afrika.  

Immer wieder zeigen wir, wer die globalen Probleme verschärft und wer sie löst.  

Und schließlich ist es Präsident Putins Hauptziel – ja, er ist geradezu besessen davon–, die Ukraine als Nation auszulöschen – ihre Identität, ihre Bevölkerung, ihre Kultur, ihre Handlungskompetenz, ihr Hoheitsgebiet. Aber auch hier hat Putins Vorgehen das Gegenteil bewirkt. Niemand hat mehr zur Stärkung der nationalen Identität der Ukraine beigetragen als der Mann, der sie auslöschen wollte. Niemand hat die Einheit und Solidarität der Ukrainerinnen und Ukrainer mehr gefördert. Niemand hat mehr dazu beigetragen, die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer Entschlossenheit zu bestärken, ihre Zukunft selbstbestimmt zu gestalten.  

Die Ukraine wird niemals Russland sein. Die Ukraine ist souverän, unabhängig und hat ihr Schicksal selbst in der Hand. Mit Blick auf sein Hauptziel ist Putin auf spektakuläre Weise gescheitert.  

Präsident Putin behauptet ständig, die Vereinigten Staaten, Europa und die Länder, die die Ukraine unterstützen, seien darauf aus, Russland zu besiegen oder zu zerstören, seine Regierung zu stürzen und seine Bevölkerung in die Schranken zu weisen. Das ist falsch. Wir streben nicht den Sturz der russischen Regierung an und haben dies auch nie getan. Über die Zukunft Russlands müssen die Menschen in Russland entscheiden.  

Wir haben keinen Streit mit den Russinnen und Russen, die nicht gefragt wurden, ob sie diesen tragischen Krieg wollten. Wir beklagen, dass Putin Zehntausende von Russinnen und Russen in den Tod schickt, obwohl er den Krieg, der ruinöse Auswirkungen auf die Wirtschaft und die ökonomischen Perspektiven Russlands hat, jetzt beenden könnte, wenn er wollte. In der Tat muss man sich fragen: Hat Putins Krieg das Leben, die Lebensgrundlage oder die Zukunftsaussichten der einfachen russischen Bürgerinnen und Bürger in irgendeiner Weise verbessert?  

Alles, was wir und unsere Verbündeten und Partner als Reaktion auf Putins Invasion tun, dient demselben Zweck: der Ukraine zu helfen, ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen und für die internationalen Regeln und Grundsätze einzutreten, die durch Putins anhaltenden Krieg gefährdet sind.  

Eines möchte ich direkt an die russische Bevölkerung gerichtet sagen: Die Vereinigten Staaten sind nicht Ihr Feind. Nach dem friedlichen Ende des Kalten Krieges hatten wir die gemeinsame Hoffnung, dass Russland in eine bessere Zukunft aufbrechen würde, frei und offen, weltweit vollständig integriert. Seit über 30 Jahren setzen wir uns für stabile und kooperative Beziehungen zu Moskau ein, weil wir glauben, dass ein friedliches, sicheres und wohlhabendes Russland im Interesse der Vereinigten Staaten, ja im Interesse der ganzen Welt liegt. Daran glauben wir auch heute noch.  

Wir können und wollen Ihnen die Entscheidung über Ihre Zukunft nicht abnehmen. Aber wir werden auch nicht zulassen, dass Präsident Putin anderen Nationen seinen Willen aufzwingt. Moskau muss die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Integrität seiner Nachbarn ebenso achten, wie es dies für Russland einfordert.  

Wie ich bereits deutlich gemacht habe, war Präsident Putins Einmarsch in die Ukraine in jeder Hinsicht ein strategisches Scheitern. Doch obwohl Putin seine Ziele nicht erreicht hat, gibt er sie nicht auf. Er ist überzeugt, dass er länger durchhalten kann als die Ukraine und ihre Unterstützer, indem er immer mehr Russen in den Tod schickt und der ukrainischen Zivilbevölkerung immer mehr Leid zufügt. Er glaubt, dass er langfristig gewinnen kann, selbst, wenn er kurzfristig Verluste hinnehmen muss. Auch in diesem Punkt irrt Putin.  

Die Vereinigten Staaten sind – gemeinsam mit ihren Verbündeten und Partnern – fest entschlossen, die Verteidigung der Ukraine heute, morgen und so lange wie nötig zu unterstützen. Diese Unterstützung wird in den Vereinigten Staaten von beiden Parteien getragen. Und gerade weil wir uns keine Illusionen über Putins Ziele machen, glauben wir, dass die Voraussetzung für sinnvolle Diplomatie und echten Frieden eine stärkere Ukraine ist, die in der Lage ist, vor künftigen Angriffen abzuschrecken und diese abzuwehren.  

Wir haben ein hervorragendes Team für diese Aufgabe zusammengestellt. Unter der Führung von US-Verteidigungsminister Austin arbeiten mehr als 50 Länder im Rahmen der Kontaktgruppe zur Verteidigung der Ukraine zusammen. Und wir gehen mit gutem Beispiel voran, indem wir der Ukraine Sicherheitsunterstützung in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellen, die von beiden Parteien im Kongress tatkräftig und uneingeschränkt unterstützt wird.  

Heute helfen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten und Partner der Ukraine dabei, ihren gegenwärtigen Bedarf auf dem Schlachtfeld zu decken und gleichzeitig Streitkräfte aufzubauen, die auf Jahre hinaus abschreckende Wirkung erzeugen und Angriffe abwehren können. Das bedeutet, dass wir beim Aufbau eines zukunftsfähigen ukrainischen Militärs behilflich sind, das über eine langfristige Finanzierung, eine starke Luftwaffe mit modernen Kampfflugzeugen, ein integriertes Luftverteidigungs- und Raketenabwehrnetz, fortschrittliche Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, nationale Kapazitäten zur Herstellung von Munition sowie die Ausbildung und Unterstützung verfügt, um die Streitkräfte und die Ausrüstung einsatzbereit zu halten.  

Das bedeutet auch, dass die Entscheidung über die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO bei den Bündnispartnern und der Ukraine – und nicht bei Russland – liegen wird. Nicht nur die langfristige militärische Stärke der Ukraine wird den Weg zum Frieden ebnen, sondern auch die Stärke ihrer Volkswirtschaft und ihrer Demokratie. Im Zentrum unserer Vorstellungen für den weiteren Weg steht ist Folgendes: Die Ukraine muss nicht nur überleben, sie muss gedeihen. Um stark genug zu sein, Aggressoren jenseits ihrer Grenzen abzuschrecken und abzuwehren, benötigt die Ukraine eine lebendige, erfolgreiche Demokratie innerhalb ihrer Grenzen.  

Für diesen Weg haben die Ukrainerinnen und Ukrainer gestimmt, als sie 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten. Diese Entscheidung haben sie 2004 auf dem Maidan und erneut 2013 verteidigt: eine freie und offene Gesellschaft, in der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geachtet werden, die vollständig in Europa integriert ist, in der alle Ukrainerinnen und Ukrainer in Würde leben und die Möglichkeit haben, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, und in der die Regierung auf die Bedürfnisse der Bevölkerung und nicht auf Partikularinteressen oder die Interessen der Eliten eingeht.  

Wir sind entschlossen, mit Verbündeten und Partnern zusammenzuarbeiten, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen, ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Wir werden der Ukraine nicht nur helfen, ihre Volkswirtschaft wieder aufzubauen, sondern sie auch neu zu denken, mit neuen Industriezweigen, Handelswegen und Lieferketten, die mit Europa und den Märkten in aller Welt verbunden sind. Wir werden die unabhängigen ukrainischen Einrichtungen zur Bekämpfung von Korruption, eine freie und lebendige Presse und die Organisationen der Zivilgesellschaft weiter unterstützen. Wir werden der Ukraine dabei helfen, ihr Stromnetz, das zur Hälfte von Russland zerstört wurde, zu erneuern, sodass es sauberer und widerstandsfähiger wird und besser in die Netze der Nachbarn integriert ist, damit die Ukraine eines Tages zum Energieexporteur werden kann.  

Die stärkere Anbindung der Ukraine an Europa ist für all diese Bemühungen von entscheidender Bedeutung. Kiew hat im vergangenen Juni einen großen Schritt in diese Richtung getan, als die Union der Ukraine offiziell den Status als EU-Kandidat zuerkannte. Und obwohl das Land gerade ums Überleben kämpft, arbeitet Kiew daran, die Anforderungen der EU zu erfüllen.  

Die Investitionen in die Stärke der Ukraine gehen nicht auf Kosten der Diplomatie. Sie ebnen den Weg für die Diplomatie. Präsident Selenskyj hat wiederholt gesagt, dass Diplomatie der einzige Weg sei, diesen Krieg zu beenden, und wir stimmen ihm zu. Im Dezember legte er ein Konzept für einen gerechten und dauerhaften Frieden vor. Anstatt auf diesen Vorschlag einzugehen oder gar einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten, sagte Präsident Putin, es gebe nichts zu besprechen, solange die Ukraine nicht „neue territoriale Realitäten“ akzeptiere – mit anderen Worten, die Einnahme von 20 Prozent des ukrainischen Hoheitsgebiets durch Russland. Im Winter versuchte Putin, die ukrainische Zivilbevölkerung zu töten, indem er sie erfrieren ließ, im Frühjahr versuchte er, sie mit Bomben zu töten. Tag für Tag lässt Russland Raketen und Drohnen auf ukrainische Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser niederregnen.  

Aus der Ferne stumpft man leicht ab gegenüber diesen und anderen russischen Gräueltaten wie dem Drohnenangriff auf ein Krankenhaus in Dnipro in der vergangenen Woche, bei dem vier Menschen, darunter auch Ärztinnen und Ärzte, getötet wurden, den 17 Angriffen auf Kiew allein im Mai, bei denen häufig Hyperschallraketen eingesetzt wurden, oder dem Raketenangriff auf die Stadt Uman im April – Hunderte von Kilometern von der Front entfernt –, bei dem 23 Zivilistinnen und Zivilisten getötet wurden. Die Rakete schlug vor Sonnenaufgang in mehrere Wohnhäuser in Uman ein. In einem dieser Häuser eilte Dmytro, der Vater von Kyrylo, 17 Jahre, und Sophia, 11 Jahre, in das Zimmer, in dem seine Kinder schliefen. Als er die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, war da allerdings kein Zimmer mehr, nur Feuer und Rauch. Seine Kinder waren tot. Zwei weitere unschuldige Leben wurden ausgelöscht. Zwei von sechs Kindern, die bei einem einzigen Angriff Russlands getötet wurden. Zwei von Tausenden ukrainischen Kindern, die durch Russlands Angriffskrieg getötet wurden. Tausende weitere wurden verwundet, und Tausende wurden von Russland aus ihren Familien entführt und an russische Familien übergeben. Millionen von Menschen wurden vertrieben. Sie alle sind Teil einer Generation ukrainischer Kinder, die durch Putins Angriffskrieg in Angst und Schrecken versetzt und traumatisiert wurden. Sie alle erinnern uns daran, warum sich die Ukrainerinnen und Ukrainer so vehement für die Verteidigung ihres Landes einsetzen und warum sie einen gerechten und dauerhaften Frieden verdient haben.  

Man hört immer wieder, dass die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen würden, wenn sie wirklich Frieden wollten, und dass die Ukraine einfach ihre Verluste begrenzen und das Fünftel ihres Territoriums, das Russland unrechtmäßig besetzt hält, aufgeben würde, wenn sie den Krieg wirklich beenden wollte. Spielen wir das in Gedanken einmal durch. Welche Nachbarn Russlands würden sich in ihrer eigenen Souveränität und territorialen Integrität sicher fühlen, wenn Putins Angriff mit einem Fünftel des ukrainischen Territoriums belohnt würde?  

Und überhaupt: Wie kann sich ein Nachbarland eines Tyrannen, der in der Vergangenheit Drohungen ausgesprochen und Gewalt ausgeübt hat, innerhalb seiner eigenen Grenzen sicher fühlen? Welche Lehre werden andere mögliche Aggressoren auf der ganzen Welt daraus ziehen, dass Putin ungestraft gegen einen Kernaspekt der UN-Charta verstoßen konnte? Und wie oft in der Geschichte haben sich Aggressoren, die sich eines Nachbarlandes ganz oder teilweise bemächtigt haben, damit zufrieden gegeben und danach aufgehört? Wann hat sich Wladimir Putin jemals zufrieden gegeben?  

Die Vereinigten Staaten arbeiten mit der Ukraine – und mit Verbündeten und Partnern auf der ganzen Welt – zusammen, um einen Konsens über die Kernelemente eines gerechten und dauerhaften Friedens herzustellen. Um es klar zu sagen: Die Vereinigten Staaten begrüßen jede Initiative, die dazu beiträgt, Präsident Putin an den Verhandlungstisch zu bringen, um sinnvolle Diplomatie zu betreiben. Wir werden alle Bemühungen unterstützen – ob von Brasilien, China oder einem anderen Staat –, wenn sie einen Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen eröffnen.  

Das bedeutet Folgendes:  

Ein gerechter und dauerhafter Frieden muss der UN-Charta gerecht werden und die Grundsätze der Souveränität, der territorialen Integrität und der Unabhängigkeit bekräftigen.  

Ein gerechter und dauerhafter Frieden erfordert die volle Beteiligung und Zustimmung der Ukraine – nichts über die Ukraine ohne die Ukraine.  

Ein gerechter und dauerhafter Frieden muss den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung der Ukraine unterstützen, und Russland muss seinen Teil dazu beitragen.  

Zu einem gerechten und dauerhaften Frieden gehören sowohl Verantwortlichkeit als auch Versöhnung.  

Ein gerechter und dauerhafter Frieden kann einen Weg zur Aufhebung der Sanktionen ebnen, der an konkrete Maßnahmen, insbesondere den Rückzug der Streitkräfte, geknüpft ist. Ein gerechter und dauerhafter Frieden muss Russlands Angriffskrieg beenden.  

In den kommenden Wochen und Monaten werden einige Länder zu einem Waffenstillstand aufrufen. Oberflächlich betrachtet klingt das vernünftig, ja sogar verlockend. Denn wer würde nicht wollen, dass die Kriegsparteien ihre Waffen niederlegen? Wer würde nicht wollen, dass das Töten ein Ende hat?  

Aber ein Waffenstillstand, der die derzeitigen Linien einfach einfriert und es Putin ermöglicht, die Kontrolle über von ihm eroberte Gebiete zu festigen und sich dann zu erholen, wieder aufzurüsten und erneut anzugreifen – das ist kein gerechter und dauerhafter Frieden. Das ist ein Potemkinscher Frieden. Er würde Russlands Landraub legitimieren. Er würde den Aggressor belohnen und das Opfer bestrafen.  

Wenn Russland bereit ist, auf einen echten Frieden hinzuarbeiten, werden die Vereinigten Staaten gemeinsam mit der Ukraine und anderen Verbündeten und Partnern weltweit darauf reagieren. Und gemeinsam mit der Ukraine und den Verbündeten und Partnern wären wir bereit, eine breitere Diskussion über die europäische Sicherheit zu führen, die Stabilität und Transparenz fördert und die Wahrscheinlichkeit künftiger Konflikte verringert.  

In den kommenden Wochen und Monaten werden die Vereinigten Staaten weiter mit der Ukraine, mit ihren Verbündeten und Partnern sowie mit allen Parteien zusammenarbeiten, die sich für einen gerechten und dauerhaften, auf diesen Grundsätzen beruhenden Frieden einsetzen.  

Am 4. April 1949, auf den Tag genau 74 Jahre vor dem Beitritt Finnlands zur NATO, kamen die Gründungsmitglieder des Bündnisses in Washington zusammen, um den Gründungsvertrag zu unterzeichnen. Präsident Truman warnte die Gruppe: „Wir können nicht erfolgreich sein, wenn unsere Bevölkerung in ständiger Angst vor Angriffen lebt und von den Kosten für die Vorbereitung ihrer einzelnen Länder auf einen Angriff erdrückt wird. [Wir] hoffen, einen Schutzschild gegen Aggression und die Angst vor Aggression zu schaffen – ein Bollwerk, das es uns ermöglicht, mit der wirklichen Aufgabe fortzufahren, … ein erfüllteres und glücklicheres Leben für alle unsere Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.“   

Das gilt auch heute. Kein Land – weder die Ukraine, noch die Vereinigten Staaten, Finnland, Schweden oder irgendein anderes Land – kann etwas für seine Bürgerinnen und Bürger tun, wenn es in ständiger Angst vor Aggression lebt. Deshalb haben wir alle ein Interesse daran, dass der Angriffskrieg von Präsident Putin gegen die Ukraine ein strategisches Scheitern bleibt.  

In seiner Neujahrsansprache an die finnische Bevölkerung wies Präsident Niinistö auf einen der grundlegenden Fehler in Präsident Putins Plan zur raschen Eroberung der Ukraine hin – einen Fehler, der auch Stalins Plan zur raschen Eroberung Finnlands zum Verhängnis wurde. Präsident Niinistö sagte: „Stalin und Putin haben als Anführer eines autoritär regierten Landes nicht erkannt, … dass die Menschen in einem freien Land ihren eigenen Willen und ihre eigenen Überzeugungen haben. Und dass eine Nation, die zusammenarbeitet, eine gewaltige Kraft entfaltet.“  

Die Finnen haben ein Wort für diese kämpferische Verbindung von Wille und Entschlossenheit: sisu. Und sie sehen sisu im heutigen Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer. Wenn ein freies Volk wie die Ukrainerinnen und Ukrainer von freien Staaten der ganzen Welt unterstützt wird – von Staaten, die erkennen, dass ihr Schicksal und ihre Freiheit, ihre Rechte und ihre Sicherheit untrennbar miteinander verbunden sind, dann ist die Kraft, die sie besitzen, nicht nur immens, sie ist unbezwingbar.  

Ich danke Ihnen vielmals.

Originaltext: Russia’s Strategic Failure and Ukraine’s Secure Future