Tage des Gedenkens
Rede des Außenministers
Das Holocaust Memorial Museum in Washington, dessen Gründung auf einen Kongressbeschluss von 1980 zurückgeht, widmet der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus die Woche nach dem israelischen Gedenktag Jom-haScho’a. Die Rede, die US-Außenminister Blinken am 8. April aus diesem Anlass per Videoschalte hielt, haben wir übersetzt.
Danke, Sara.
Es ist eine Ehre, an diesen Jom-haScho’a-Gedenktagen teilhaben zu dürfen.
Ein Auschwitz-Überlebender schrieb, dass die in die Gaskammern geführten Juden, nachdem die Stahltüren verschlossen waren und das Gas eingeleitet wurde, nur noch drei Minuten zu leben hatten.
Und in diesen drei Minuten „fanden Sie genug Kraft, mit ihren Fingernägeln die Worte ‚nie vergessen‘ in die Wände zu kratzen.“ Niemals vergessen.
Ihre letzte Handlung vor ihrem Tod bestand darin, uns zu warnen. Uns zu sagen, dass wir uns erinnern müssen.
Aber warum müssen wir uns erinnern? Wir erinnern uns, um das Leben der sechs Millionen Juden, Sinti und Roma, Slawen, Menschen mit Behinderungen, LGBTQ+-Personen und vieler anderer in Ehren zu halten, die von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren ermordet wurden.
Wir erinnern uns, um den Getöteten und Überlebenden die unveräußerliche Würde zuzuerkennen, die ihre Mörder ihnen mit jeder entmenschlichenden Handlung zu nehmen versuchten.
Wir erinnern daran, dass diese Menschen, bevor sie zu Opfern wurden, Mädchen und Jungen, Frauen und Männer mit ihren eigenen Lebensentwürfen und Hoffnungen waren.
Sie waren alle einzigartig, hatten ihre eigene Art zu gehen, reden und lachen.
Wie wir auf den Archivbildern gesehen haben, liefen sie Schlittschuh, wurden von ihren Eltern auf den Schultern getragen und picknickten im Freien.
Wir erinnern uns außerdem nicht nur an das, was geschehen ist, sondern auch daran, wie es dazu kommen konnte.
Wir erinnern uns daran, unsere Institutionen und Gesellschaften zu beobachten, um besser zu verstehen, was sie unternommen und was sie unterlassen haben.
Wir erinnern uns, damit wir lernen.
Und wir lernen, damit wir es nicht wiederholen.
Im Holocaust Memorial Museum in den Vereinigten Staaten gibt es gerade eine Ausstellung mit dem Titel „Amerikaner und der Holocaust“.
Eine Geschichte, die in der Ausstellung herausgehoben wird, handelt von einem Mann namens Breckenridge Long aus dem US-Außenministerium. Er wurde 1939 von Präsident Roosevelt zum Leiter der Abteilung für besondere Kriegsprobleme ernannt, die nach Hitlers Einmarsch in Polen geschaffen wurde. Long war zuständig für die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik für vom Krieg betroffene Länder, einschließlich der Erteilung von Visa.
Er verfügte damit über großen Einfluss, den er hätte nutzen können, um den Verfolgten zu helfen. Als die Nationalsozialisten aber systematisch begannen, Juden zusammenzutreiben und zu töten, machte Long es für Juden immer schwieriger, Zuflucht in den Vereinigten Staaten zu finden.
Er führte beschwerliche Sicherheitskontrollen ein und behauptete, sie seien notwendig, um das Eindringen feindlicher Spione in die Vereinigten Staaten zu
verhindern, obwohl es keine Beweise dafür gab, dass eine solche Gefahr von den Flüchtlingen ausging.
Long verheimlichte nicht, was er tat. Er beschrieb es in der offiziellen diplomatischen Korrespondenz. In einem Drahtbericht vom Juni 1940 hieß es: „Wir können die Einwanderung in die Vereinigten Staaten für einen vorübergehenden Zeitraum von unbestimmter Länge aufhalten und effektiv stoppen. Dazu könnten wir unsere Konsuln einfach anweisen, den Antragstellern so viele Hindernisse wie möglich in den Weg zu legen, zusätzliche Nachweise zu fordern und unterschiedliche administrative Mittel zu nutzen, um die Ausstellung von Visa immer weiter hinauszuzögern.“
Immer weiter hinauszuzögern. Während die Nazis immer weiter töteten.
Die Menschen, die sich verzweifelt bemühten, Juden aus Europa herauszuschaffen, kannten den Bericht von Long nicht, aber sie spürten seine Auswirkungen.
Die amerikanische Quäkerin Margaret Jones versuchte, Juden bei der Flucht aus Wien zu helfen. Nach einem entmutigenden Termin mit dem US-Konsul in Zürich schrieb sie: „Wir dürfen diese tragischen Menschen nicht mehr in der Hoffnung lassen, dass sie alle Anforderungen erfüllen können, dass sie bei Vorlage aller Unterlagen zu den Glücklichen gehören könnten, die ein Visum bekommen, wenn wir doch wissen, dass in Deutschland heute praktisch niemand ein Visum erhält.“
Und dennoch hofften und versuchten Juden es weiter, auch wenn nur ein Bruchteil ein Visum erhielt.
Abteilungsleiter Long hat noch Schlimmeres getan. Er hielt Berichte über Massenmorde zurück, die den Druck auf die Vereinigten Staaten erhöht hätten, mehr Juden aufzunehmen.
Und er log den Kongress an. Er sagte den Abgeordneten, das Außenministerium tue alles in seiner Macht Stehende, um Juden aus Europa zu retten, und dass die Vereinigten Staaten 580.000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen hätten. Dabei hatten wir nur 138.000 Juden aufgenommen.
Es ist wichtig festzuhalten, dass Long nicht alleine handelte. Er hatte bei der Ausarbeitung und Umsetzung seiner Maßnahmen Helfer im Außenministerium. Andere sahen schweigend zu, wie Long weitere Auflagen und Verzögerungen erdachte.
Aber es gab auch Widerstand. Eine Gruppe entschlossener Beamter im US-Finanzministerium fand die Mittel, Tausende Juden aus Rumänien und Frankreich zu evakuieren, denen die Hinrichtung drohte.
Nach zahllosen Blockaden durch Beamte wie Long entschieden sie, sich an Präsident Roosevelt zu wenden.
Sie erarbeiteten den „Bericht an den Minister über die Duldung des Mordes an den Juden durch diese Regierung“, in dem die Weigerung des US-Außenministeriums, Juden zu helfen, vernichtend detailliert dargelegt wurde.
Die Autoren schrieben: „Beamte des US-Außenministeriums haben nicht nur versäumt, den ihnen zur Verfügung stehenden US-Regierungsapparat zu nutzen, um Juden vor Hitler retten, sondern sind sogar so weit gegangen, diesen Regierungsapparat einzusetzen, um die Rettung dieser Juden zu verhindern.“
Sie warnten: „Diese Regierung wird die Verantwortung für diese Vernichtung für alle Zeiten mittragen müssen.“
Sechs Tage später kündigte Roosevelt die Schaffung einer Regierungsdienststelle für Flüchtlinge an, die sich „der sofortigen Rettung und Unterstützung der Juden Europas und anderer Opfer der feindlichen Verfolgung“ widmen sollte.
Und diese Dienststelle rettete Zehntausende Juden und half Hunderttausenden weiteren.
Aber da waren schon vier Millionen Juden ermordet worden.
Von 1933 bis 1943 sahen die Einwanderungsquoten der Vereinigten Staaten die Aufnahme von 1,5 Millionen Menschen vor. Wir haben weniger als 480.000
aufgenommen. Über eine Million Plätze blieben ungenutzt, während jeden Tag Tausende von Juden ermordet wurden.
„Nie vergessen“, sagen uns die Worte, die in die Wände der Gaskammer gekratzt wurden.
Als derzeitiger Außenminister, der die Behörde leitet, in der Breckenridge Long und andere einst die Hebel der Regierung in Bewegung setzten, um Leid zu verursachen, höre ich diese Warnung.
Wir dürfen nie vergessen, dass einzelne Menschen ganze Systeme – von oben nach unten – ins Unmenschliche kippen lassen können.
Wie die sterile Sprache von diplomatischer Korrespondenz, Briefings und Vorschriften dazu benutzt werden kann, Menschen abzuweisen, denen wir helfen sollten.
Und wir dürfen nicht vergessen, dass einzelne Menschen, mit der Wahrheit und ihren Überzeugungen ausgestattet, dieselben Mechanismen nutzen können, um Leben zu retten.
Die Beamten des Finanzministeriums, die geholfen haben, Tausende Juden zu evakuieren.
Margaret Jones, die einen Visumantrag nach dem anderen bei einem System einreichte, das auf Ablehnung gepolt war, weil sie wusste, was es bedeuten würde, auch nur eine Genehmigung zu erhalten.
Die amerikanischen GIs, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um die Nazis zu bekämpfen, und deren Sieg letztendlich viele Leben rettete.
Leben wie das des Teenagers, der diese, in die Wände der Gaskammern in Auschwitz eingeritzten Worte sah: Gefangener B-1713. Dieser Junge war mein Stiefvater, Samuel Pisar.
Er war zweimal in diese Gaskammern geschickt worden und schaffte es, seinem Todesurteil zu entkommen – das zweite Mal, indem er Eimer und Schrubber griff und so tat, als sei er zum Bödenschrubben geschickt worden.
Wir leben in einer Zeit, in der der Antisemitismus in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt wieder zunimmt.
Und wie immer, so geht der Hass auf Juden auch jetzt oft mit dem Hass auf andere einher – darunter LGBTQ+-Personen, People of Color, Menschen mit Behinderungen und Flüchtlinge.
Wenn hasserfüllte Ideologie auf dem Vormarsch ist, ist auch die Gewalt nicht weit, wie die jüngsten Angriffe auf Amerikaner asiatischer Abstammung gezeigt haben.
Vor einigen Wochen gab die Koordinatorin der US-Nachrichtendienste einen Bericht heraus, in dem es hieß, dass rassistisch oder ethnisch motivierte gewalttätige Extremisten im heutigen Amerika die größte tödliche Gefahr des inländischen gewaltsamen Extremismus darstellten.
Es überrascht nicht, dass viele dieser Extremisten den Holocaust leugnen.
Zwischen diesen Dingen gibt es eine Verbindung.
Wir müssen also wachsam bleiben.
Mein Stiefvater schrieb über seine Zeit in den Konzentrationslagern: „Mehr als jeder Stacheldrahtzaun mit Suchscheinwerfern und Maschinengewehrtürmen um uns herum war die Unmöglichkeit, irgendeinen Strahl der Hoffnung zu erblicken, die ultimative Quelle der Verzweiflung…Was geschah in der Welt da draußen? Wusste irgendjemand dort, was hier mit uns geschah? Kümmerte es sie?….Und Amerika, Amerika, bist du noch da?“
Meinem Stiefvater beantwortete Amerika diese Frage in Form des GIs, der ihn in den amerikanischen Panzer zog, den er den „Schoß der Freiheit“ nannte.
Und doch gibt es viele Orte auf der Welt, an denen in diesem Augenblick die gleichen Fragen gestellt werden.
Von Menschen, die aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung in modernen Internierungslagern sitzen.
Oder gefoltert werden, weil sie sich gegen Gewaltherrschaft aussprechen.
Oder verfolgt werden, einfach nur, weil sie sind, wer sie sind.
An diesem Tag erinnern wir an die Hände, die an den Wänden eine eingeritzte Warnung hinterlassen haben.
Sie flehen uns an, uns nicht nur an das zu erinnern, was mit den Juden geschah und an die unveräußerliche Würde der Gestorbenen, sondern auch daraus zu lernen, dass manche tatenlos zusahen und andere sich widersetzten.
Damit wir, falls wieder gefragt wird: „Amerika, bist du noch da?“, zu jenen gehören, die antworten können: „Ja, wir sind noch da.“
Originaltext: U.S. Holocaust Memorial Museum Days of Remembrance Commemoration