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Februar 28, 2023

US-Außenminister Blinken beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen

Bei der Sondersitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen anlässlich des Jahrestags des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hielt US-Außenminister Antony Blinken am 24. Februar 2023 in New York folgende Rede. 

Herr Präsident, Herr Generalsekretär, verehrte Ratsmitglieder: 

Vor einem Jahr und einer Woche – am 17. Februar 2022 – habe ich diesen Rat davor gewarnt, dass Russland einen Einmarsch in die Ukraine plant. 

Ich erklärte, dass Russland mit dem Ziel, die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine zu stürzen, einen Vorwand liefern und dann mit Raketen, Panzern, Soldatinnen und Soldaten sowie Cyberangriffen vorher festgelegte Ziele angreifen werde, unter anderem auch Kiew. 

Der Vertreter Russlands – im Übrigen derselbe Vertreter, der auch heute das Wort ergreifen wird –, bezeichnete dies als „unbegründete Anschuldigungen“. 

Sieben Tage danach, am 24. Februar 2022, begann Russland mit seiner groß angelegten Invasion. 

Aufgrund des erbitterten Widerstands der ukrainischen Streitkräfte scheiterte Präsident Putin mit seinem Hauptziel, die Ukraine zu erobern, ihre Existenz als unabhängiges Land zu vernichten und sie Russland einzuverleiben. 

Dann kramte er sein Drehbuch für die Krim aus dem Jahr 2014 wieder hervor: Er rief kurzfristig Referenden in vier besetzten Teilen der Ukraine aus, deportierte Ukrainerinnen und Ukrainer, schleuste Russinnen und Russen ein, führte mit vorgehaltener Waffe Scheinabstimmungen durch und manipulierte dann die Ergebnisse, um erklären zu können, dass die Zustimmung zum Beitritt zur Russischen Föderation beinahe einstimmig sei. 

Als es Präsident Putin nicht gelang, die ukrainischen Streitkräfte zu bezwingen, verstärkte er seine Bemühungen, den Geist der Ukrainerinnen und Ukrainer zu brechen. Im vergangenen Jahr hat Russland Zehntausende ukrainische Frauen, Männer und Kinder getötet, mehr als 13 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, mehr als die Hälfte des ukrainischen Stromnetzes zerstört, mehr als 700 Krankenhäuser und 2.600 Schulen bombardiert und mindestens 6.000 ukrainische Kinder – einige gerade erst vier Monate alt – entführt und nach Russland verschleppt. 

Und doch ist der Kampfgeist der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen, wenn nicht sogar stärker denn je. 

Als die Ukraine eine Gegenoffensive einleitete und weite Teile ihres Staatsgebiets zurückeroberte, zog Präsident Putin weitere 300.000 Männer ein und schickte immer mehr junge Russen ins Verderben. Und er hat die Wagner-Gruppe losgelassen – Söldner, die von Afrika bis zum Nahen Osten und jetzt in der Ukraine Gräueltaten begehen. 

Das ist allerdings nicht alles, was es über das letzte Jahr zu erzählen gibt. 

Es gibt da auch noch die Geschichte der ukrainischen Bevölkerung. Obwohl sie zahlenmäßig weit unterlegen sind, haben sie tapfer gekämpft, um ihr Land, ihre Freiheit und das Recht zu verteidigen, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Und sie beweisen inspirierende Geschlossenheit, indem sie sich gegenseitig dabei helfen, Moskaus unerbittliche Angriffe zu überstehen. 

Lehrkräfte und Nachbarn unterrichten die Kinder in Bunkern. Städtische Bedienstete improvisieren bei der Reparatur der Versorgungsnetze, um die Wärme-, Strom- und Wasserversorgung der Ukrainerinnen und Ukrainer wiederherzustellen. Nachbarinnen und Nachbarn richten Suppenküchen ein, um die Hungrigen zu versorgen. 

Und dann gibt es noch davon zu erzählen, wie die internationale Gemeinschaft zusammengefunden hat. 

Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten hat mehrfach dafür gestimmt, Russlands Verstöße gegen die UN-Charta zu verurteilen und den illegalen Versuch, ukrainisches Staatsgebiet zu besetzen, zurückzuweisen. Gestern stimmten in der Vollversammlung 141 Länder für eine Resolution, die die Grundprinzipien der Souveränität und territorialen Integrität bekräftigt, die Gräueltaten Russlands verurteilt und die Unterstützung für einen gerechten und umfassenden Frieden im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zum Ausdruck bringt. 

Als Präsident Putin versuchte, Hunger als Waffe zu nutzen, indem er die schlimmste weltweite Nahrungsmittelkrise seit der Gründung der Vereinten Nationen instrumentalisierte, reagierte die internationale Gemeinschaft umgehend. 

Seit die Vereinigten Staaten im vergangenen Mai den Vorsitz bei einer Tagung zur Ernährungssicherheit führten, haben mehr als 100 Länder eine Reihe konkreter Verpflichtungen zur Linderung des Hungers unterzeichnet. Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative, die zu einem großen Teil Generalsekretär Guterres und der Türkei zu verdanken ist, hat Russlands Würgegriff auf die ukrainischen Häfen gelockert und die Getreidepreise weltweit fallen lassen. Nun, da Moskau erneut versucht, die Lieferungen zu drosseln, müssen wir dafür sorgen, dass diese Initiative verlängert und ausgebaut wird. 

Als Präsident Putin versuchte, Energie als Waffe einzusetzen, leiteten wir Erdgaslieferungen aus der ganzen Welt um, damit die Menschen in den Ländern, auf die es Russland abgesehen hatte, im Winter nicht frieren mussten. Europa unternahm zudem außergewöhnliche Schritte, um weniger abhängig von russischer Energie zu werden. 

Kein Land hat unter dem Krieg Russlands mehr gelitten als die Ukraine, aber fast alle Länder haben ihn schmerzlich zu spüren bekommen. Und doch stehen Staaten auf der ganzen Welt weiterhin an der Seite der Ukraine. Denn, und das ist uns allen klar, wenn wir die Ukraine aufgeben, geben wir auch die UN-Charta selbst und die Grundsätze und Regeln auf, die alle Länder sicherer machen. 

Keine gewaltsame Besetzung von Land. 

Unverletzlichkeit der Grenzen eines anderen Landes. 

Kein Angriff auf Zivilistinnen und Zivilisten im Krieg. 

Keine Angriffskriege. 

Wenn wir diese Grundprinzipien nicht verteidigen, schaffen wir eine Welt, in der Recht hat, wer Macht hat, und in der die Starken über die Schwachen herrschen. Dieses Gremium wurde geschaffen, damit wir nicht mehr in einer solchen Welt leben müssen. Und die Mitglieder dieses Rates haben die besondere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass wir es nicht wieder so weit kommen lassen. Wir können dies auf drei Arten tun. 

Erstens müssen wir uns für einen gerechten und dauerhaften Frieden einsetzen. 

Ich gehe davon aus, dass viele Länder heute zu Frieden aufrufen werden. 

Niemand wünscht sich den Frieden mehr als das die Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Vereinigten Staaten haben schon lange – auch schon vor diesem Krieg – deutlich gemacht, dass sie zu jeder sinnvollen diplomatischen Anstrengung bereit sind, um Russlands Aggression gegen die Ukraine zu stoppen. 

Aber die Geschichte lehrt uns, dass auch die Art des Friedens wichtig ist. 

Ein gerechter Frieden setzt voraus, dass die Grundsätze der UN-Charta gewahrt werden: Souveränität, territoriale Integrität, Unabhängigkeit. 

Dauerhafter Frieden setzt voraus, dass Russland sich nicht einfach ausruhen, dann aufrüsten und den Krieg in ein paar Monaten oder Jahren wieder aufnehmen kann. 

Jeder Frieden, der Russlands gewaltsame Landnahme legitimiert, schwächt die Charta und lässt potenzielle Aggressoren auf der ganzen Welt wissen, dass sie in Länder einmarschieren und damit durchkommen können. 

Präsident Selenskyj hat einen Zehnpunkteplan für einen gerechten und dauerhaften Frieden vorgelegt. Präsident Putin hingegen hat klargestellt, dass es nichts zu besprechen gibt, solange die Ukraine nicht „die neuen territorialen Gegebenheiten“ akzeptiert. Gleichzeitig hat er sein brutales taktisches Vorgehen noch verstärkt. 

Die Mitglieder dieses Rates tragen eine grundlegende Verantwortung dafür, dass jeder Frieden gerecht und dauerhaft ist. 

Die Mitglieder des Rates sollten sich nicht von Forderungen nach einem vorübergehenden oder bedingungslosen Waffenstillstand täuschen lassen. Russland wird jede Kampfpause nutzen, um seine Kontrolle über das unrechtmäßig eroberte Gebiet zu festigen und seine Streitkräfte aufzustocken, um weitere Angriffe verüben zu können. Genau das geschah auch, als Russlands erster Angriff auf die Ukraine 2015 ins Stocken geriet. Sehen Sie sich an, was dann folgte. 

Die Mitglieder dieses Rates sollten nicht in die Falle tappen, die beiden Seiten fälschlicherweise gleichzusetzen und beide aufzufordern, die Kämpfe einzustellen, oder andere Staaten auffordern, ihre Unterstützung der Ukraine im Namen des Friedens einzustellen. 

Auch sollten die Mitglieder dieses Rates nicht gleichzeitig Frieden fordern und Russlands Krieg gegen die Ukraine und gegen die UN-Charta unterstützen. 

In diesem Krieg gibt es einen Aggressor und ein Opfer. 

Russland kämpft, um zu erobern. Die Ukraine kämpft für ihre Freiheit. 

Wenn Russland die Kampfhandlungen einstellt und aus der Ukraine abzieht, endet der Krieg. Wenn die Ukraine die Kampfhandlungen einstellt, ist es das Ende der Ukraine. 

Fakt bleibt: Ein Mann – Wladimir Putin – hat diesen Krieg begonnen, und ein Mann kann ihn beenden. 

Zweitens müssen sich die Mitglieder dieses Rates trotz ihrer Arbeit zur Beendigung des russischen Kriegs gegen die Ukraine auch weiterhin mit anderen Herausforderungen für Frieden und Sicherheit weltweit befassen. 

Wir verstehen die Befürchtung, dass die Unterstützung der Ukraine und die Forderung, Russland zur Verantwortung zu ziehen, Aufmerksamkeit und Ressourcen von anderen Ländern in Not ablenken. 

Diesen Ländern möchte ich sagen: Schauen Sie sich an, was wir tun. 

Und wenn Sie hören, wie Russland und seine Fürsprecher den Ländern, die die Ukraine unterstützen, vorwerfen, sie würden die übrige Welt ignorieren, dann sage ich: Schauen Sie sich an, was Moskau tut. 

Vergleichen Sie die Zahlen. Zusätzlich zu den 13,5 Milliarden US-Dollar an Nahrungsmittelhilfen, die die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr zur Bekämpfung des Hungers beigesteuert haben, finanzieren wir auch mehr als 40 Prozent des Haushalts des Welternährungsprogramms. Russland trägt weniger als ein Prozent zu diesem Haushalt bei. 

Das ist kein Einzelfall. Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen steuern die Vereinigten Staaten mehr als neunmal so viel wie Russland zur UN-Friedenssicherung bei. Wir zahlen 390-mal so viel wie Russland an UNICEF. Wir geben fast 1.000-mal so viel wie Russland an das UN-Flüchtlingshilfswerk. 

Drittens müssen wir unser Bekenntnis zur Wahrung dessen bekräftigen, was die UN-Charta „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ nennt. 

Wir müssen weiterhin Beweise für die anhaltenden und zahlreichen Gräueltaten Russlands zusammentragen, darunter Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt sowie die Verschleppung Tausender ukrainischer Zivilistinnen und Zivilisten nach Russland. 

Wir müssen weiterhin Russlands Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren und diese Beweise an Ermittelnde und Staatsanwaltschaften weitergeben, damit die Täter eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden können. 

Wenn man Tag für Tag die Gräueltaten Russlands miterlebt, könnte man leicht abstumpfen und die Fähigkeit verlieren, Entsetzen und Empörung zu empfinden. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Verbrechen, die Russland begeht, zu unserer neuen Normalität werden. 

Butscha ist keine Normalität. Mariupol ist keine Normalität. Irpin ist keine Normalität. Schulen, Krankenhäuser und Wohnhäuser zu bombardieren und in Schutt und Asche zu legen ist keine Normalität. Ukrainische Kinder ihren Familien zu entreißen und sie an Menschen in Russland zu geben ist keine Normalität. 

Wir dürfen nicht ebenso gleichgültig und abgestumpft gegenüber dem Leben von Menschen werden wie Präsident Putin. 

Wir müssen uns zwingen, daran zu denken, dass hinter jeder Gräueltat in diesem elenden Krieg, in Konflikten auf der ganzen Welt, ein Mensch steht. 

Vor Kurzem habe ich eine Ausstellung mit Kunstwerken ukrainischer Kinder besucht, die vom Krieg betroffen sind. 

Eines der Bilder hatte ein zehnjähriges Mädchen namens Veronika gemalt. Im April des vergangenen Jahres wurde ihr Haus in Wuhledar von russischen Truppen beschossen, wobei ihre gesamte Familie ums Leben kam. Als die Rettungskräfte sie aus den Trümmern bargen, steckte ein Schrapnell in ihrem Schädel. Ihr linker Daumen war abgerissen worden. Die Ärzte retteten ihr das Leben, aber durch den Angriff ist ihre rechte Hand weitgehend taub, und auf dem linken Auge ist sie blind. 

Auf ihrem Bild malte Veronika sich selbst in einem leuchtend rosa- und orangefarbenen Kleid mit einem Blumenstrauß in der Hand. Sie steht neben einem Gebäude. Auf die Frage, wer dort wohne, antwortete sie, es sei ein Ort, an dem alle Menschen, die sie kenne und die im Krieg getötet worden waren, in Sicherheit seien. 

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren…“, so beginnt die UN-Charta. 

Verehrte Mitglieder dieses Rates: Es ist an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Es gibt so viele Menschen in der Ukraine, die sich dasselbe wünschen wie das kleine Mädchen Veronika: eine Welt, in der sie in Frieden leben können, in ihrem eigenen Land, und in der die Menschen, die sie lieben, sicher sind. 

Wir haben die Macht und die Verantwortung, diese Welt zu schaffen, heute und für kommende Generationen. Wir können und werden nicht zulassen, dass ein Land sie zerstört. 

Vielen Dank. 

 

OriginaltextSecretary Blinken’s Remarks at the United Nations Security Council Ministerial Meeting on Ukraine