Was Amerika in der Ukraine tun und was es unterlassen wird
Die New York Times veröffentlichte einen Gastbeitrag von US-Präsident Joe Biden zur Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber der Ukraine. Der Beitrag erschien am 31. Mai 2022 zunächst in der Online-Ausgabe der Zeitung und wurde am 1. Juni 2022 in der Printausgabe veröffentlicht.
Die militärische Invasion, von der Wladimir Putin glaubte, sie würde nur wenige Tage dauern, dauert nun schon seit vier Monaten an. Mit ihrer Opferbereitschaft, ihrem Kampfgeist und ihren Erfolgen auf dem Schlachtfeld hat die Bevölkerung der Ukraine Russland überrascht und die Welt inspiriert. Die freie Welt und viele andere Nationen, allen voran die Vereinigten Staaten, haben sich gemeinsam an die Seite der Ukraine gestellt und diese in nie dagewesenem Maße militärisch, humanitär und finanziell unterstützt.
Der Krieg geht weiter, und ich möchte die Absichten der Vereinigten Staaten bei diesem Einsatz klar zum Ausdruck bringen.
Die Vereinigten Staaten verfolgen ein klar umrissenes Ziel: Wir wollen eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die über die Mittel zur Abschreckung und zur Verteidigung gegen weitere Angriffe verfügt.
Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij gesagt hat, wird dieser Krieg letztlich „nur durch Diplomatie endgültig beendet werden“. Jede Verhandlung trägt den Tatsachen vor Ort Rechnung. Wir haben schnell reagiert, um der Ukraine beträchtliche Mengen an Waffen und Munition zukommen zu lassen, damit sie auf dem Schlachtfeld kämpfen und am Verhandlungstisch die stärkste mögliche Position einnehmen kann.
Deshalb habe ich entschieden, dass wir den Ukrainerinnen und Ukrainern fortschrittlichere Raketensysteme und Munition zur Verfügung stellen werden, die es ihnen ermöglichen, wichtige Ziele auf dem Schlachtfeld in der Ukraine präziser zu treffen.
Wir werden bei den Russland-Sanktionen – die härtesten Sanktionen, die je gegen eine große Volkswirtschaft verhängt wurden – weiter mit unseren Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten. Wir werden die Ukraine weiter mit modernen Waffensystemen ausstatten, darunter Javelin-Panzerabwehrraketen, Stinger-Flugabwehrraketen, leistungsstarke Artillerie- und Präzisionsraketensysteme, Radargeräte, unbemannte Luftfahrzeuge, Mi-17-Helikopter und Munition. Wir werden zudem, wie vom Kongress genehmigt, weitere finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe bereitstellen. Wir werden mit unseren Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten, um die weltweite Nahrungsmittelkrise zu bewältigen, die durch den russischen Angriff noch verschärft wird. Und wir werden unseren Bündnispartnern und anderen in Europa helfen, ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verringern und schneller den Übergang zu einer Zukunft der sauberen Energien zu schaffen.
Wir werden auch weiter die Ostflanke der NATO mit Streitkräften und Fähigkeiten der Vereinigten Staaten und anderer Bündnispartner stärken. Erst kürzlich habe ich die Bewerbung Finnlands und Schwedens um die Mitgliedschaft in der NATO begrüßt, denn die Erweiterung um zwei demokratische und sehr fähige militärische Partner wird die Sicherheit der Vereinigten Staaten und die transatlantische Sicherheit insgesamt erhöhen.
Wir streben keinen Krieg zwischen der NATO und Russland an. So wenig ich auch mit Herrn Putin einer Meinung bin, und ich halte sein Vorgehen für skandalös, die Vereinigten Staaten werden nicht versuchen, in Moskau seinen Sturz zu bewirken. Solange die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner nicht angegriffen werden, werden wir in diesen Konflikt nicht direkt eingreifen, weder durch die Entsendung amerikanischer Streitkräfte in die Ukraine, noch durch einen Angriff auf russische Streitkräfte. Weder ermutigen noch befähigen wir die Ukraine zu Schlägen außerhalb ihrer Landesgrenzen. Wir wollen den Krieg nicht verlängern, nur um Russland Schmerzen zuzufügen.
Mein Grundsatz lautete während dieser gesamten Krise: „Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine.“ Ich werde die ukrainische Regierung weder hinter verschlossenen Türen noch öffentlich dazu drängen, irgendwelche territorialen Zugeständnisse zu machen. Das wäre falsch und widerspräche bewährten Prinzipien.
Die Gespräche der Ukraine mit Russland sind nicht ins Stocken geraten, weil die Ukraine der Diplomatie den Rücken gekehrt hat. Sie sind ins Stocken geraten, weil Russland weiterhin Krieg führt, um so viel von der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen wie nur möglich. Die Vereinigten Staaten werden sich weiterhin dafür einsetzen, die Ukraine zu stärken und ihre Bemühungen für eine Verhandlungslösung dieses Konflikts unterstützen.
Grundlose Angriffe, die Bombardierung von Geburtskliniken und Kulturzentren sowie die Zwangsvertreibung von Millionen Menschen machen den Krieg in der Ukraine zu einer zutiefst moralischen Frage. Ich habe in Polen ukrainische Geflüchtete getroffen – Frauen und Kinder, die nicht wussten, welches Leben ihnen bevorsteht und wie es ihren in der Ukraine zurückgelassenen Angehörigen geht. An niemandem, der ein Gewissen hat, kann das Grauen dieser Zerstörung spurlos vorübergehen.
Der Ukraine in dieser Stunde ihrer Not zur Seite zu stehen, ist nicht nur richtig. Es liegt in unserem lebensnotwendigen nationalen Interesse, ein friedliches und stabiles Europa zu gewährleisten und deutlich zu machen, dass Macht nicht gleich Recht bedeutet. Wenn Russland für sein Vorgehen nicht einen hohen Preis bezahlen muss, wird das anderen möglichen Aggressoren signalisieren, dass auch sie Gebiete einnehmen und andere Länder unterwerfen können. Es wird das Überleben anderer friedlicher Demokratien gefährden. Es könnte das Ende der regelbasierten internationalen Ordnung bedeuten und die Tür für Angriffe andernorts öffnen – mit katastrophalen Folgen weltweit.
Ich weiß, viele Menschen in aller Welt sind besorgt über den möglichen Einsatz von Atomwaffen. Momentan sehen wir keine Anzeichen dafür, dass Russland vorhat, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, wobei das gelegentliche atomare Säbelrasseln durch Aussagen Russlands an sich schon gefährlich und extrem verantwortungslos ist. Ich sage es ganz deutlich: Ein wie auch immer gearteter Einsatz von Atomwaffen in diesem Konflikt, egal welcher Größenordnung, wäre für uns und auch für den Rest der Welt absolut inakzeptabel und würde gravierende Konsequenzen nach sich ziehen.
Die Amerikanerinnen und Amerikaner werden der ukrainischen Bevölkerung weiter beistehen, weil wir wissen, dass es Freiheit nicht umsonst gibt. Das haben wir immer getan, wenn Feinde der Freiheit unschuldige Menschen tyrannisieren und unterdrücken wollen, und das tun wir auch jetzt. Wladimir Putin hat weder mit einem so hohen Maß an Einheit noch mit der Stärke unserer Reaktion gerechnet. Er hat sich geirrt. Er irrt sich auch dann, wenn er meint, dass wir in den kommenden Monaten zaudern oder aufgeben werden.
Originaltext: What America Will and Will Not Do in Ukraine